Eine Kurzgeschichte von Gabriele Müller

Kinderkram

von kulturvollzug

Die zweite Kurzgeschichte von Gabriele Müller handelt von Fluppen und Fehlschüssen: Eine sehr große Prinzessin tritt zum Elfmeter gegen ihren Vater an.

Er trug den alten Strohhut, ein kurzärmeliges Hemd, im Mundwinkel hing wie üblich eine Zigarette, und seine Hände steckten in den Hosentaschen.

Sie nahm Anlauf und schoss.

Alles, was ihr Vater bewegte, war die Zigarette.

Niedergeschlagen und beschämt sah sie ihn an.

Des einen Freud, des anderen Leid: Papas Tussi (Illustration: Andreas Wiedemann)

 

„Los, gleich noch einen. Irgendwann triffst du schon“, rief der Vater. Dazu hatte er die Zigarette kurz aus dem Mund genommen und diesen zu einem breiten Grinsen verzogen. Sofort danach steckte er die Zigarette wieder in den Mund und schob seine Hand in die Hosentasche, schlenderte entspannt zum Ball und kickte ihn passgenau zu ihr zurück. „So, jetzt aber, jetzt zeigst du’s mir, ja?“ Er beugte sich ein wenig nach vorn, als ob er eine Abfahrt hinunterbrettern wollte, nur dass er die Arme weit ausgebreitet hatte. Dann hüpfte er nach links, hüpfte nach rechts. Band die Schnürsenkel zusammen, richtete sich auf und schob die Hände zurück in die Hosentaschen. „Mach mich fertig, kleine Prinzessin!“

Sie sah ihn böse an.

„Große Prinzessin. Entschuldigung. Sehr, sehr große Prinzessin“, sagte er, kippte die Asche von der Zigarette und nahm einen Zug. Die Hand kam natürlich sofort wieder in die Hosentasche.

Bei ihrem nächsten Schuss drehte er immerhin den Kopf leicht seitwärts, um die Flugbahn des Balls weit über das Tor hinweg in Richtung Universum zu verfolgen. Die Zigarette immer noch im Mund. Die ein klein wenig wippte. So als ob selbst sie über diesen grandiosen Fehlschuss spöttelte.

Eines Tages würde sie diese dämliche Fluppe mit einem Mörderschuss enthaupten. Die Zigarette würde sich um die eigene Achse drehen und dann langsam wie ein Hubschrauberpropeller zu Boden segeln. Der Filter würde immer noch zwischen den Lippen ihres Vaters stecken. Und der würde sie voller Respekt anschauen, durchaus angsterfüllt.

Sie würde auf den Rasen spucken, wie man nach getaner Arbeit eben auf den Rasen spuckt.

*

„Manchmal hasse ich meinen Vater“, sagte Nine.

„Ich hasse meinen Vater jeden Sonntag. Und jeden zweiten Donnerstag“, sagte Manuel.

„Warum?“

„Dann bringt er seine Tussi mit nach Hause. Dann sexen sie. Und wenn’s ganz schlimm kommt, stöhnt er wie ein Bekloppter. Ühihuhiüüüüühü.“

„Er stöhnt mit Ü?“, fragte Nine.

„Mit Ü. Und zwar nicht nur mit einem.“

„Im Türkischen gibt es auch viele Üs. Süpermarket sagen die. Klingt doch cool, Süpermarket.“

„Wenn das so ist, dann ist mein Vater im Bett wohl ein echter Türke“, sagte Manuel, pustete einen Kaugummi auf und ließ ihn platzen.

„Mit unseren Vätern haben wir nicht wirklich das große Los gezogen“, sagte Nine und seufzte.

„Vielleicht sollten wir abhauen.“

„Wohin?“

„Ins Hotel“, sagte Manuel.

„Ein gutes Hotel kann ich mir nicht leisten, und in ein schlechtes Hotel geh ich nicht.“

Sie war manchmal ganz schön zickig, dachte Manuel. „Aber wehren müssen wir uns auf jeden Fall, sonst geht das immer so weiter, sonst hat das nie ein Ende.“

„Vielleicht brauchen wir einen Anwalt“, sagte Nine.

„Auch zu teuer.“

„Habt ihr keine Rechtsschutzversicherung?“

„Das weiß ich nicht“, sagte Manuel.

„Wir sind gegen alles versichert. Aber wenn’s richtig hart kommt, dann hilft dir keine Versicherung der Welt weiter.“

Er nickte wissend: „Wir drohen ihnen einfach, dass wir an die Öffentlichkeit gehen. Zu einer Zeitung.“

„Oder auf Facebook. Dann weiß es jeder. Das ist viel effektiver“, sagte Nine.

„Oder wir machen unsere eigene Homepage. Und da können sich dann alle Kinder über ihre Alten beschweren. Wir machen unser eigenes Start-up-Unternehmen.“

„Dann werden wir auch noch richtig reich“, sagte Nine.

Sie lachten.

„Ich sag meinem Vater, dass er ausziehen soll“, sagte Manuel.

„Und ich? Was soll ich machen?“

„Wir üben einfach so lange Elfmeterschießen, bis du deinen Vater zumindest mitten ins Gesicht triffst. Dann ist die Kippe auch weg. Und dein Vater wird dann schon kapieren, was Sache ist. Aber dass du die Zigarette allein triffst, das trau ich dir jetzt echt nicht zu.“

„Das ist zu schwierig?“

Er nickte.

„Und wenn dein Vater nicht auszieht?“

„Dann ruf ich die Bullen“, er grinste. „Das ist umsonst.“

„Ich hab eine bessere Idee. Ich komm dich nächsten Sonntag besuchen. Dann gehen wir in dein Zimmer“, sagte Nine. „Und dann stöhnen wir beide ganz laut und brüllen: ÜÜÜÜoooohhahühott. Glaub mir, da vergeht deinem Vater ganz schnell die Lust.“

Wenn Manuel laut lachte, geriet er in ungewöhnliche Tonlagen. Das störte sie aber nicht. Es würde eine Weile dauern, bis er sich wieder einkriegen würde. Aber das kannte Nine schon.

Sie saßen auf den Treppenstufen und warteten.

*

Dann kamen ihre Väter, um sie abzuholen von der Trauergruppe. Dorthin gingen sie seit mehr als zwei Jahren. Als ihre Mütter gestorben waren. Manuels Mutter an Krebs, ihre bei einem Autounfall. Ihre Väter hatten sie in die Gruppe geschickt. Am Anfang war das komisch gewesen, über das Traurigsein zu reden. Aber es war auch gut. Und obwohl es jetzt schon eine Weile her war, dass ihre Mütter gestorben waren, gingen sie immer noch in die Gruppe. Nine wegen Manuel und Manuel wegen Nine.

Es war ein schönes Gefühl, sich auf den anderen zu freuen.

„Ich bin froh, dass wir Freunde sind“, sagte Nine.

„Das kannst du glauben“, sagte Manuel.

 

Von Gabriele Müller ist im Ars Vivendi Verlag der Kriminalroman „Dress-Code“ erschienen.

Veröffentlicht am: 16.03.2012

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