Eine Kurzgeschichte von Maria Levina

Die Töne fliegen und fallen

von kulturvollzug

Eine Reise ins Unbekannte, in der sich Grenzen auflösen und aus Vergangenem unerwartete Schönheit entsteht.

Wenn verlorene Klänge zueinander finden. Bild: Maria Levina mit ChatGPT 4o

Von Maria Levina

Die Frage ist, warum die Klaviertaste in meiner Hand zittert. Es ist eine schwarze verstaubte Taste, wahrscheinlich von einem alten Klavier, sie hat jeden Glanz verloren. Vermutlich lag sie schon eine Weile im Staub herum. Bis ich sie aufhob. Hat sie die ganze Zeit schon gezittert? Letzten Endes war es ein klackendes Geräusch, das mich dazu bewegt hat, mich hinzuknien und unter den Bücherschrank zu schauen. Ich schaue sie an und überlege. Bevor ich in diese Wohnung zog, muss hier ein Klavier gestanden haben und irgendwie hat es diese Taste geschafft ihm zu entkommen und auch noch unbemerkt zu bleiben und den Auszug zu überstehen. Entkommen klingt so negativ, vielleicht ist sie auch versehentlich heruntergefallen oder hat für eine Weile Abstand von den anderen Tasten gebraucht und hat nicht mit einberechnet, dass ihr Zuhause entfernt werde würde. Naja, ich nehme sie erstmal mit. Jetzt muss ich sowieso los und irgendwie gefällt mir der Gedanke sie als Talisman oder so etwas Ähnliches bei mir zu haben. Vielleicht fühlt sie sich dann auch wohler, und hört auf zu zittern. Scheint ihre Form der Kommunikation zu sein, aber was soll ich sagen, meine ist anders. Während ich die Treppen heruntergehe, fällt mir ein Glitzern auf und das klackende Geräusch, das ich vorhin unter dem Schrank gehört habe, kommt jetzt aus meiner Tasche. Die kleine Taste zittert viel stärker als zuvor, ich nehme sie in die Hand und das Zittern wird intensiver. Mir fällt wieder das Glitzern unter der Treppe auf und ich schaue mir die Stelle genauer an. Es scheint ein kleiner Knopf zu sein, - ist er von einer Trompete? Die Taste zittert immer mehr, ich kann sie kaum halten. Sie springt mir aus der Hand und landet auf dem Knopf. Ich hebe beide auf und es scheint, als wären die beiden Instrumententeile verschmolzen. Wie soll das denn so schnell gegangen sein? Das Zittern ist weg.

Na, vielleicht hat sie jetzt einen Kumpanen gefunden. Auch wenn ich die Verschmelzung nicht ganz erklären kann, aber wer kann schon alles erklären. Ich gehe aus der Tür raus und laufe in Richtung des Parks. Nach etwa zehn Minuten fängt das Klacken wieder an und dazu kommt noch ein neues Geräusch – der Knopf scheint auf und abzufahren und dabei Luft wegzustoßen. Ich hole das neuartige Gebilde aus der Tasche und betrachte das aberwitzige Verhalten der beiden Teile. Tatsächlich scheinen sie ein Zeichen geben zu wollen, ich schaue mich also um und sehe links von mir einen Violinisten. Er fummelt an seiner Geige herum, etwas scheint nicht ganz zu stimmen. Eine Saite ist gerissen und er ist gerade damit beschäftigt sie zu ersetzen. Ich gehe zu ihm rüber und das Klacken und Pressen wird immer lauter. Es scheint um die kaputte Saite zu gehen. Bevor sie im Müll landet, bitte ich ihn sie mir zu geben und in dem Moment, in dem ich sie in die Hand nehme, springen die Taste und der Knopf aus meiner Hand und die Saite wickelt sich um sie herum. Dabei ist aber noch so viel Platz, dass sie immer noch frei zu schwingen scheint. So geht es den ganzen Tag weiter. Immer wieder tauchen neue Teile von Musikinstrumenten auf und ich verbringe die meiste Zeit damit den Geräuschen in meiner Tasche zu lauschen und so nach und nach meinen nun doch etwas größer gewordenen „Talisman“ auszubauen. Als es schon Abend wird, trage ich ein eigenartiges Gebilde mit mir, dass aus Klavier-, Akkordeon- und Cembalo-Tasten, den Saiten unterschiedlichster Streicher, Knöpfen und Rohren von Blasinstrumenten, einem Schlagstock einer Trommel sowie einer Triangel, besteht.

Ich laufe also nach Hause, stelle es auf meinen Tisch, gehe ein paar Schritte zurück und betrachte das summende, schlagende, vibrierende, singende, klackende und fast schon tanzende Gebilde. Es ist durchgehend in Bewegung und alle Teile scheinen auf ihre eigene Weise miteinander zu kommunizieren und auch zu interagieren.

Ich setze mich hin und warte ab.

Die Bewegung wird schneller und wieder langsamer, sie geht mal nach oben, unten, rechts, links. Sie setzt aus, alles wird ruhig. Ich bewege mich nicht. Absolute Stille. Und dann, mit einem Knall, beginnen sich alle Teile zu bewegen und es erklingt Musik, die ich so noch nie gehört habe. Es sind Klänge, die so fremd sind, kaum greifbar, die verwirren und doch, ein Gefühl der Ruhe in mir auslösen. Als würde ich auf Wolken schweben und gleichzeitig von Welle zu Welle getragen werden, manchmal geht es unebene Treppen hinauf und dann rutsche ich wieder herunter, Perlen fallen auf den Boden, sie rollen über das Parkett und dann fliegen sie ein kleines bisschen hoch und eine nach der anderen fällt wieder herunter. Klack, klack, klack. Manchmal wird die Musik laut und aggressiv, völlig aus dem Takt und ohne Erbarmen. Sie wird massiv und allumfassend und dann wieder zart und winzig klein. Ich kann sie in meine Arme schließen und halten, ich halte sie, ich lasse sie nicht los. Und dann gebe ich sie frei, betrachte sie wieder aus der Entfernung und lasse mich in die Töne fallen. Die Musik wird leiser und verstummt nach einer Weile ganz. Ich sitze auf meinem Stuhl, mein Gesicht glüht und meine Hände zittern.

Den ganzen Tag habe ich kleine, unbrauchbare, verlassene Teile gesammelt, die den Weg zueinander gesucht und durch mich gefunden haben. Sie schienen ihr altes Zuhause gewollt oder ungewollt verlassen zu haben und konnten so einen neuen Ort finden, um frei zu sein. So frei, dass aus ihnen etwas völlig Neues entstehen konnte, ein Instrument, das so noch nie zuvor bestand und Musik erklingen ließ, die für uns Menschen eine erstaunliche Welt der Klänge eröffnete. Ohne Rahmen, ohne Regeln, ohne Ziele.

Es ist ein Sturz ins Unbekannte, aber ohne Aufprall, ohne Verletzung. Vielmehr fliegt man durch eine Ebene durch und landet in einer völlig anderen. In der alle Möglichkeiten offen und der Kreativität keine Grenzen gesetzt sind. So frei, dass sogar aus einer kleinen Taste eine völlig neue Form der Musik entstehen kann.

 

Veröffentlicht am: 15.02.2025

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