München 72 (Folge 2)
Spiele ohne Muskelkraft - Bayernschau mit Leibls Lederhose
Der Mai war gekommen, und mit einem Schlag war München völlig „verspielt“. Museen, Theater und andere Kulturstätten widmen sich plötzlich – mit großem Ernst – dem heiteren, sportlichen, künstlerischen, kreativen Spiel. Ein Vorlauf des umfangreichen, anspruchsvollen olympischen Kulturprogramms wurde im Bayerischen Nationalmuseum gestartet. 439 Objekte aus eigenem Bestand und von Leihgebern veranschaulichen „Gesellschaftsspiele aus einem Jahrtausend“.
Allerdings brauchte es bei jenen Disziplinen in der Regel mehr Glück und Verstand als Muskelkraft und Körperkondition. Ein paar Parallelen zum bevorstehenden Sportspiel gab es aber doch. Schon 1521 hatte der Magistrat von Osnabrück die erste deutsche Lotterie eingeführt. Der „Glückstopf“, der die Lose enthielt, war dann freilich immer wieder verboten worden. Da hatte die - aus dem offiziellen Logo für eine Fernsehlotterie entwickelte - olympische „Glücksspirale“ doch mehr Glück.
Auch die in der Abteilung Sport dargestellten Spiele hatten weder olympische noch sonstige Traditionen bilden können, etwa das „Pallons-Spiel“, bei dem ein aufgepumpter Ball mit Hilfe hölzerner Ärmel von einer Partei zur anderen geschlagen wurde, oder das „Amorspiel“, bei dem ein an einem Stab pendelnder Pfeil auf ein schwebendes Herz gestoßen wurde, oder das vom bayerischen Kurfürsten Max Emanuel zu Anfang des 18. Jahrhunderts erfundene „Pass-Spiel“, in dem Ausstellungsleiter Himmelheber einen Vorläufer des Minigolf sah.
Das eigentliche Kulturprogramm eröffnete der scheidende Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel im Juni im Stadtmuseum: die öffnete Ausstellung „Bayern – Kunst und Kultur“. Ein kurioses Sammelsurium dessen, was der älteste deutsche Staat in 2000 Jahren hervorgebracht hat. Das reichte vom ältesten römischen Meilenstein, gefunden bei Miesbach, bis zur „Raumprojektion“ von 1972, bestehend aus Filmprojektoren und einem Lesegerät mit 23 Kanälen. Fast 3000 Gegenstände hatte Dr. Michael Petzet aus halb Europa zusammengeholt und in einem heiter-volkstümlichen Reigen aufgestellt.
Viele der Dokumente waren überhaupt erstmals dem Volk zugänglich. Manches beschädigte Kunstwerk aus Kirchen, Klöstern oder Schlössern war extra für Olympia restauriert worden. Sogar verschollene Stücke tauchten plötzlich auf, zum Beispiel der originale Modellkopf der gusseisernen Bavaria, der in einem Schuppen bei Starnberg gefunden wurde. Er konnte nunmehr in einem nachgebauten Ruhmestempel, in dem die Zeit König Ludwigs I. veranschaulicht ist, durch ein Fernrohr von Frauenhofer betrachtet werden.
In Anlehnung an das Olympiadach wurde das „größte Dach der City“ über einen Teil der Bilderbogenschau gespannt. Unter ihm befand sich ein weiteres, ein erobertes Sultanzelt aus den Türkenkriegen, das Kurfürst Max Emanuel für seine Aufmärsche verwendet hat. Auch das Karussell, mit dem ein anderer Herrscher als Kind gespielt hat, drehte sich zu klingendem Spiel.
Der Marathonlauf durch die Kulturgeschichte ging vorbei an Altären, naiven Votivtaferln, Hinterglasmalereien, Puppenhäusern, Trachten, Rüstungen, Büsten, Spielen und den Werken bedeutender bayerischer Künstler, von Dürer bis Marc. Erzählt wird von „Sportarten“ der Bajuwaren, etwa einer Wildschweintreibjagd am Ammersee oder einem „Scherzturnier“ im Hofgarten.
An Kuriosa fehlte es nicht. Da erspäht man die schwarze Lederhose des Malers Leibl ebenso wie eine Schützenscheibe des Volksdichters Ganghofer und das Gewehr des Wilderers Anton Dasinger, genannt „Bums der Waldteufel“. Dennoch war Petzet weit davon entfernt, der Welt ein krachledernes Bayern vorführen zu wollen. Er sieht in der Ausstellung immerhin den Versuch, die Kultur eines ganzen Landes erstmals umfassend zu dokumentieren.
Die große Trommel des Karl Valentin, ein frühes Bild des Augsburgers Bert Brecht mit Lederjacke sowie eine Proklamation des Arbeiter- und Bauernrates von 1919 symbolisierten ebenso ein Stück neueres Bayern wie die Vernehmungsprotokolle zum Hitler-Attentat im Bürgerbräukeller vom November 1938, ein Fragment aus einer kriegszerstörten Kirche oder das „Auto-Votiv“, mit dem ein zeitgenössischer Künstler seinen Beitrag zum Umweltschutz ableistete.
Weltkunst im „Antikörper“
Eine perfekt organisierte, die ganze Welt umspannende Mammutschau wie die Spiele selbst war auch die Olympia-Ausstellung „Weltkulturen und moderne Kunst“, die Ministerpräsident Alfons Goppel und OK-Präsident Willi Daume eröffneten. Dreißig Kunstwissenschaftler hatten 2300 Gegenstände von rund 150 Museen und 110 Galerien und Privatsammlungen aus über 20 Ländern zusammengestellt.
Im Englischen Garten hatte Paolo Nestler eigens einen aluminiumverkleideten Glaspalast aus Baukastenelementen für diese Weltkunstschau aufgestellt. Eine Art „Antikörper“ zum benachbarten, teilweise überbauten Haus der Kunst, wo eine erste Ausstellung von neuer Kunst aus der DDR stattfand. Dieser 170 Meter lange Glassturz sollte nach Vorstellung seines Erbauers Paolo Nestler „als Zeugnis heutiger Architektur dem Überdimensionalen etwas Improvisiertes, Liebenswürdiges Freches entgegensetzen“.
In Kojen, Info-Schleusen, einem Klangzentrum und einem orientalischen Basar veranschaulichte die einzige offizielle, vom Organisationskomitee selbst veranstaltete Ausstellung die Einflüsse und Anregungen, die Europas Kunst vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis heute von Kulturen der Welt erhalten hat. Sogar das japanische Kaiserhaus stellte erstmals Schätze zur Verfügung. In 37 Kisten wurde außerdem ein komplettes Teehaus nach München verfrachtet, um im Englischen Garten, der schon einen Chinesischen Turm hat, für immer aufgestellt zu werden. Dazu wurde ein japanischer Garten angelegt und eine zierliche Brücke über einem künstlich angestauten See gespannt.
Im Basar spielte vor einem Plätscherbrunnen ein Janitscharen-Orchester. Jazz wurde in allen Entwicklungsstufen dargeboten.. Es gab eine indische und eine japanische Woche, lateinamerikanische und afrikanische Tage, persische und indianische Musik, Schattenspiele, No-Spiele, Tänze, Yoga, Meditationen.
Kunst der Träumer
Noch bevor die „Weltkulturen“ zu bestaunen waren, trat im originalen Haus der Kunst eine jener modernen Künste, die zu einer wahren Weltkultur wurde, zur glanzvollen Revue an: „Der Surrealismus“. Den „Eintritt des Mediums“ in die Kunst hatte André Breton 1922 verkündet. Mit seinen Dichterfreunden in Paris war er übereingekommen, unter Surrealismus „einen bestimmten psychischen Automatismus zu verstehen, de ziemlich genau dem Zustand des Träumens entspricht“.
Fast 500 solcher gemalter und geformter Träume waren genau 50 Jahre später vereinigt, ausgewählt von dem Surrealismus-Experten Patrick Waldberg, ausgeliehen von 40 Museen und über 60 Privatsammlungen, fast alle abgebildet in einem 12-DM-Katalog, der mit seinen vielen Zitaten und Zeittafeln eine erstrangige Dokumentation darstellt. Ein Stück neuer Kunstgeschichte, das noch keineswegs abgeschlossen ist, sondern bis in die Popart und Aktionskunst hineinwirkt, wurde da plötzlich lebendig.
Karl Stankiewitz
(Karl Stankiewitz bringt demnächst im Volk Verlag ein Buch zur Münchner Kunstszene seit 1945 heraus („Die befreite Muse“), das auch Ereignisse von 1972 beschreibt).