München 72 (Folge 3)
Sonderling Spielstraße - Ein Freiraum für Künstler, die experimentierten und auch provozierten
Das Areal zwischen Theatron und ehemaliger Spielstraße wird auch heute noch bespielt. Rummel als Volksvergnügen ohne Experimente und Provokation (Foto: Archiv ama)
Sie war für viele Olympia-Planer das Lieblingskind, für andere ein Problem: die Spielstraße. Denn auf dieser Spaßmeile zwischen dem aufgestauten See und dem frisch begrünten Hügel aus Kriegsschutt, die ein wesentlicher Bestandteil des Kulturprogramms war, sollte exemplarisch dargeboten werden, was das Motto der „heiteren Spiele“ meinte.
Dies geschah durch eine ungewöhnliche Performance von unterschiedlichen Elementen. Im offiziellen Olympiaführer las sich das so: Straßen-, Pantomimen-, Puppen- und Marionettentheater, Audiovision, Multimedia, Mitspielmöglichkeiten des Publikums, Musik, Tanz und Folklore, Theatron mit Seebühne, Buden-Halbinsel, Show-Terrassen, Medienstraße, Multivisionszentrum. Eine Gaudi, ein ungewöhnliches Experiment.
Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung – nirgendwo sonst wurde dieses Grabbe-Stück so konsequent nachgespielt wie hier am künstlichen Seeufer. Die Stätte der Heiterkeit und Leichtigkeit, von dem Essener Bühnenarchitekten Ernst Ruhnau entworfen, wurde zwar sofort und tagtäglich vom bunt gemischten Publikum der Spiele dankbar angenommen. Der Kunsthistoriker Heinz Schütz wies das vor einiger Zeit beim Gedenk-Gespräch durch eine köstliche Filmdokumentation nach. Aber von den olympischen Obrigkeiten wurde gerade dieser Olympia-Beitrag argwöhnisch beobachtet. Und gerade die Spielstraße wurde durch den schrecklichen 5. September unter allen sonstigen Park-Stätten am schlimmsten getroffen.
Begonnen hatte es mit einer Prozession: Am Südufer des Olympiasees wanderten Sportler durch die Zukunft, wie sie es sahen: 1980 werden die Gladiatoren durch Pillen und Maschinen zum Maximum menschlicher Leistungsfähigkeit getrieben. 1984 marschieren sie auf den Krieg zu. 1992 scheren ein paar Idealisten aus. Weltkatastrophe oder Verwirklichung des Weltfriedens – das ist die Alternative, die der Futurologe Robert Jungk mit diesem Spiel der in München versammelte Welt zeigen wollte.
Während der Sportspiele fand der Zug durch die Zeit drei Mal täglich statt, dargestellt von den 18 Mitwirkenden der Berliner „Mixed Media Company“. Er gehörte zum Theaterprogramm der Spielstraße, die am 12. August mit einem Pressefest eröffnet wurde. Das Programm enthielt Szenen aus der Geschichte der Olympischen Spiele, jede 20 Minuten lang, gespielt unter freiem Himmel von avantgardistischen Truppen aus aller Welt, „kritisch, anekdotisch, dynamisch“, wie der Programmgestalter der Spielstraße, Friedrich Weber, dramaturgisch bestimmte.
21 Bühnen und ein Amphitheater mit 23 Rängen („Theatron“) waren für dieses kleine Spiel am Rand der großen Spiele aufgebaut worden. Alle alten und neuen Spielformen wurden einbezogen: Verse von Byron und Comicstrips, lateinamerikanische Folklore und Happenings. In der chronologischen Reihe fehlt allerdings das Olympiajahr 1936. „Das unvorbereitete Publikum könnte es falsch verstehen, wenn plötzlich die Stimmen von Hitler und Mussolini aus dem Lautsprecher kämen,“ meinte Klaus Bieringer, der Kulturchef des Organisationskomitees.
OK-Generalsekretär Herbert Kunze hielt die ganze Spielstraße überhaupt für „das Problem der Spiele“. Denn ganz unpolitisch, wie die IOC-Regeln vorschreiben, konnten die parodistischen Veranstaltungen am Seeufer, 190 Meter vom Stadion entfernt, wohl doch nicht sein. „Das ist von Künstlern mit gesellschaftlichem Engagement kaum zu verlangen,“ betonte Weber, der Künstlerische Leiter des Westfälischen Landestheaters. Zündstoff könnte auch der improvisatorische Charakter der Spielstraße bieten. Immerhin: „Die Künstler müssen sich an ein gewisses Timing halten.“
Auf offiziellen Einspruch hin war noch ein anderer Programmpunkt der Spielstraße, die von Ruhnau als „Oktoberfest des elektronischen Zeitalters“ konzipiert und von einem 18-köpfitgen Workshop für 2,6 Millionen Mark realisiert wurde, wieder gestrichen worden: der Bereich Pop- und Beatmusik, für den sich schon Stars wie Frank Zappa und die Rolling Stones gemeldet hatten. Die Gutachter einer Schall- und Wärmeschutzkommission empfahlen sanftere Töne, und so begnügte man sich mit Experimental-Jazz aus Polen, Sitarmusik aus Indien und antillischen Rhythmen aus Holland.
Die OK-Bosse hatten auch befürchtet, das olympische Gaudizentrum könnte zu einem riesigen, unkontrollierten Popfestival werden. Weber rechnete mit 80 000 bis 100 000 ständig anwesenden Besuchern. 220 Künstler sollten auf der 200 Meter langen Spielstraße für 50 Mark Tagesgage aktiv werden und den Sport ironisieren. Der Kölner Clown Rodda turnte am Reck, Herbert Somplatzki (Essen) übte „progressives Kunsttraining“, Roy Adzak (London) formt in einer der 55 Buden Eindrücke von Sportobjekten so, dass die Negativform das Kunstwerk waren, Saskia de Boer (Holland) visualisierte und bekleidete Sportlerporträts aus Latex, Tetsumi Kudo (Japan) schmückte Siegerpodeste mit Pflanzen und Symbolen, Fritz Schwegler (Ehingen) kommentierte die Ergebnisse des Tages mit Gesängen und Gedichten.
Im Multivisionszentrum spielten acht Gruppen mit Bildern und Filmen auf fünf großen Leinwänden. Der Tscheche Pavel Blumenfeld zum Beispiel zeigte hier Visionen von deutschen Städten. Der König der Werbefotografen, Charles Wilp, brachte mit seinen Mannequins eine „Creation Olympia“. In der Abteilung Medienstraße wollte Josef Anton Riedl „Sinneswahrnehmungen aktivieren“, durch Projektionswolken, haptische Böden, Laserlicht und „olfaktorische Duftobjekte“. Und überall zwischen den Buden und Bühnen tummelten sich Zauberer, Feuerschlucker, Jongleure, Kartenkünstler, Akrobaten, Bodybuilder, Girls, Tänzer, Sportclowns. Olympia – heiter bis total verrückt.
Ernste Begleitmusik
Einmal kam es zum Eklat. Ein Mann im Trikot goss einen halben Liter Ochsenblut auf ein Leintuch und begann unter dem Johlen des Publikums, oben auf dem Podium der „Spielstraße“ mit verbundenen Augen eine Kniebeuge nach der anderen zu machen. Er zählte laut mit und wollte es bis zur Bewusstlosigkeit treiben, um so den „blinden Masochismus“ des Leistungssports am anderen Ufer des Olympiasees zu geißeln. Aber der Auftritt des Aktionskünstlers Thomas Niggl war nicht eingeplant im Programm der „Spielstraße“, die den Olympischen Spielen mehr zubringen sollte als die versprochene „Heiterkeit“, eben das Spielerische, das Improvisierte, die freie Kunst.
Was nun geschah, schilderte der studierte Architekt anderntags dem sogenannten „informellen Treffen junger europäischer Künstler“, das im Auftrag des Olympischen Komitees über „Möglichkeiten von Kunst und Sport in der Zukunft“ nachdenken sollte: „Als ich 40 zählte, packten mich Leute und trugen mich weg und ich fand mich in einem Polizeiwagen wieder.“ Dem technischen KO zum Trotz versuchte Niggl seine Kniebeuge-Aktion am nächsten Abend noch mal – mit ähnlichem Erfolg: „Nun kamen die weißen und die blauen Bullen. Ich versteckte mich unter dem Tisch. Ruhnau kroch zu mir runter und übergab mir die Kopie eines Hausverbots.“
Die nach München eingeladenen Künstler aus zehn Ländern diskutierten diesen Vorfall nun aber nicht etwa unter dem Gesichtspunkt olympischer „Repression“, sondern versuchten, aus den „Widersprüchen zwischen dem Anspruch des Heiteren, des Offenen, des Mitspielens einerseits und der Realität anderseits positive Konzepte zu entwickeln“, wie der Regensburger Kulturdezernent Wolf Peter Schnetz als Organisationsleiter des Künstlertreffens formulierte.
Diskutiert wurden Entwürfe nicht nur für eine „permanente Spielstraße“, wie sie in den Städten verwirklicht werden solle, sondern Alternativen zur Veranstaltung Olympischer Spiele überhaupt. Der Zukunftsforscher Robert Jungk wies den Weg: Das Spiel der Muskeln und der Musen erschien ihm als das utopische Symbol eines künftigen „Freiraumes“, der freilich, wie das Beispiel Niggl beweise, gefährdet sei durch die Angst der Veranstalter und die Unfreiheit des Publikums, das noch nicht zur Freiheit erzogen sei. Andere Redner schossen aus vollen Rohren.
Die Fundamentalkritik der Künstler und Intellektuellen, wie sie sich neuerdings deutlich im Kunstverein München manifestiert, wurde jedoch von Sprechern des Sports kaltlächelnd abgeschmettert. Autor Walter Umminger, zuständig für die olympische Sportbibliothek, rühmte das „große und einzigartige Massenschauspiel“ von München betont überspitzt als „das Gesamtkunstwerk unserer Zeit, das keiner künstlerischen Umrahmung bedarf“. Wenn man dann noch bedenke, was unter „Kunst“ heute und morgen verstanden werde, dann werde es bald ohnehin keine Kunst mehr geben – mit Ausnahme der Olympischen Spiele.
Auch bei den offiziellen Olympiaveranstaltern, die immerhin 90 000 DM für das Künstlertreffen ausgegeben hatten, wurde die kritische Begleitmusik zum heiteren Spiel nicht allzu ernst genommen. Dadurch wiederum fühlten sich die Künstler „in die Nähe des Spielerischen und Kindischen gerückt“ und in ihren Argumenten bestätigt. Mit Ironie und mit bitterem Ernst hängten einige ihre sportlichen Impressionen und Reflexionen an die Wände des Kunstvereins. Da wurden Hochleistungssportler als deformierte Muskelmaschinen, dicke Omas als olympische Idole karikiert.
Politik wurde in dieser Ausstellung nicht ausgeklammert. Sprechblase aus einem Panzer: „Vorwärts, wir fahren zum nächsten Wettstreit der Nationen.“ Hürdenläufer wurden grafisch zu Manöversoldaten verfremdet, Hochspringer zu Fallschirmspringern (nach der Melodie der Olympiafanfare: „Up, up and away“). Auf einer riesigen Landkarte waren neben den Sport-, Zelt- und Badeplätzen auch die – für den olympischen Charterverkehr pazifizierten – Militärflugplätze und andere Anlagen des „Rüstungszentrums München“ dargestellt. Griechenlands Obristen-Junta grüßte nach München – mit fünf Ringen aus Eisenketten.
Spielstraße kaputt
Und dann kam es, über Nacht, zum schrecklichen Ende. Bericht des Autors vom 7. September 1972: Ein fernes Gewitter treibt Staub und leichten Regen übe die Spielstraße. Es ist 16 Uhr, am Tag der großen Gedenkfeier für die Opfer des Anschlags auf die israelischen Sportler. Alle Buden sind geschlossen. Die flimmernden Lichter sind ausgegangen. Das Trampolin und die Rutsche haben kein Wasser mehr. Vor den Lärmmaschinen, bisher eine der beliebtesten Attraktionen in dieser Drangabe der Künstler, hängt ein Schild: „Heute bitte nicht spielen.“ Dort, wo die „heiteren Spiele“ am heitersten sein sollten, sieht der große Olympiapark am traurigsten aus.
Wie Ungeheuer aus der Unterwelt sind die schwarzen Riesenwülste der „Proteichen Wesen“, die immer so lustig auf dem See schwammen, ans Ufer geschwemmt. Flugblätter von vorgestern flattern im Multimedia-Bereich. Überschrift: „Ist ein Überleben der Menschheit auf diesem Planeten möglich?“ Einer der abgezogenen Künstler hat noch schnell ein Poster gemalt und an die Bretterwand gehängt. Darauf steigt aus einer Montage von Blut und fröhlichen Menschen eine Sprechblase: „Ihr habt sie kaputt gemacht, meine Olympiade.“
Bei der Schlussfeier aber leuchtet doch noch ein Hoffnungsstreif auf, geschaffen von einem Künstler. Über dem Olympiastadion spannt sich ein Regenbogen, aus Plastikschläuchen 125 Meter hoch getragen und von Scheinwerfern in den fünf Farben der Ringe angestrahlt. Ein Lichtballett von Otto Piene, der sich seit 1961 in einem Keller der Kaulbachstraße der Sky Art widmet, indem er Drachen und andere fliegende Gebilde in den Himmel projiziert und so der Kunst eine neue, eine galaktische Dimension erschließt. Doch nicht nur die Spielstraße, von der man gern einige Elemente erhalten hätte, war kaputt, auch andere Blütenträume der Kultur kamen nicht mehr zur Reife.
Karl Stankiewitz
(Karl Stankiewitz bringt demnächst im Volk Verlag ein Buch zur Münchner Kunstszene seit 1945 heraus („Die befreite Muse“), das auch Ereignisse von 1972 beschreibt).