Die Geschichte eines Kruzifix-Fragments
Das Kreuz von Giesing, das aus der Au kommt
Wie ein später berühmter Schauspieler im Bombenschutt die Beine Christi fand, die eine bewegte Geschichte haben und erst jetzt öffentlich zu sehen sind. Unser Autor (84) erinnert sich und hat dabei Neues entdeckt.
Plötzlich waren sie wieder gegenwärtig, die Bombennächte des Jahres 1944. Damals, noch bevor der Propagandaminister Joseph Goebbels den "totalen Krieg" ausgerufen hatte, war ich als 15-jähriger Gymnasiast und Hitlerjunge zwangsweise zum Melder im Befehlsstand des Gauleiters "befördert" worden. Sofort nach Entwarnung, aber manchmal noch vor dem Ende der ab 18. März geballten Luftangriffe musste ich in der Stadt nach Großbränden Ausschau halten. Dafür bekam ich einen Soldatenhelm gestellt, denn glühende oder verkohlte Trümmer stürzten noch nach Stunden von zerstörten Häusern. Für ein Fahrrad musste ich selbst sorgen.
Fahrten durch die Hölle waren das. Nie werde ich den Großbrand des Nationaltheaters vergessen, der die ganze Innenstadt auch noch am folgenden Tag in eine Gluthölle hüllte. Immer wieder werden mir die Menschen, die vor ihren zerstörten Behausungen herumirrten, im Gedächtnis präsent. Und ebenso die eigenen Ängste in verschiedenen, oft unzureichend gesicherten, unter dem anhaltenden Bombenhagel erzitternden Luftschutzkeller. Bis zum 17. Dezember 1944 erduldete München 24 folgenschwere Tag- und Nachtangriffe der Amerikaner.
Ein nostalgischer Spaziergang
Doch solche Bilder waren es zunächst überhaupt nicht, die sich uns am Palmsonntag bei einem Spaziergang durch Giesing und die Au aufdrängten. Vielmehr erfreuten wir uns an den alten, denkmalgeschützten Herbergen, die endlich wieder so schön hergerichtet worden sind. Der Künstler Heinz Weimer hat sie alle gemalt, und der kunstfreundliche Wirt Michael Böck hat zwanzig dieser farbigen Aquarelle an die dunklen Holzwände seines altmünchnerisch gepflegten Wirtshauses Hohenwart gehängt.
Ein wenig gepflegter Park führt, hoch über der Eisenbahnschlucht, von Giesing zu einem viel berühmteren Wirtshaus in der oberen Au. Von dort steigen wir eine ziemlich versteckte Treppe hinunter in die untere Au. Am Fuß des Nockherbergs bietet sich über die Straße gleich mal der Blick auf die letzten Anlagen der großen Brauerei, die bald einer Paulaner-City weichen sollen. Rechts das ehemalige Gefängnis, das ein Hotel hätte werden können, eine Auffang- und Ausbildungsstätte für "Bürger in sozialen Schwierigkeiten" (BISS), wenn der Staatsregierung und den sie tragenden Parteien nicht ein besser zahlender Investor lieber gewesen wäre.
Eine Gasse, die Erinnerung weckt
Dann zucke ich zusammen. In den Berg hinein geht eine leicht überwucherte und verschmutzte, kaum zwei Meter breite, von Betonwänden eingefaßte Gasse. Sie endet an einer versperrten Eisentür. Nichts deutet darauf hin, was sich dahinter verbirgt. Der aus Stein gemeißelte Paulanermönch über diesem Eingang scheint geheimnisvoll zu schmunzeln. Früher, so viel ist gewiss, wurde Bier in den kalten Kavernen gelagert.
Hier muss er gewesen sein, der Bunker des Gauleiters. Hier oder in einem Tiefbunker an der Ludwigstraße (mit dicker Stahlbetondecke, Gasschleusen, Edelholzverkleidung) musste ich immer meine Brandmeldungen abgeben. Ein kleiner Luftschutzraum für die gewöhnliche Bevölkerung war auch eingerichtet. Einmal kamen die Bombenschwärme so schnell, dass unter den Menschen, die hinein drängten, Panik ausbrach. An die Toten und Verletzten erinnerte ich mich wieder, als im Juli 2010 bei der Loveparade in Duisburg 21 Menschen zu Todes getrampelt und 500 verletzt wurden.
Einen Steinwurf von diesem Steinkeller entfernt hatte ich zu Anfang des Krieges die Volksschule am Mariahilfplatz besucht. Neben mir in der Zweierbank saß ein magerer Junge. Er blieb mir wegen seines versponnenen, manchmal abwegigen Humors lange in Erinnerung. Sein Name war Hermann Fischer. Er war das sechste Kind eines armen Schuhmachers. Fast alle in unserer Klasse waren Kinder von kleinen Handwerkern und Arbeitern. Fremd war diesen der Drill, den ich im Waisenhaus drüben gewohnt war.
Auch meine alte Schule fiel in jenem Jahr in Schutt und Asche. Ebenso die benachbarte Kirche, von der wir mehrmals die neugotische Rosette abzeichnen mussten. Genau so die meisten der winzigen, "romantisch" verwinkelten, aus Holz errichteten Herbergshäuser. Auch das in der Krämerstraße 23. Unter dessen Schutt war ein Kruzifix vergraben, dass an der Fassade angebracht war und eine Geschichte von biblischer Dramatik hatte.
Da gab es dieses zerstörte Kruzifix und seine Geschichte
Vermutlich im Jahr 1462 war der gotische Christus mit einem der häufigen Isarhochwasser aus der Tölzer Gegend in die Münchner Au geschwemmt worden. An der Fundstelle baute man für ihn eine Kapelle. Nach deren Abriss im Jahr 1817 wurde der sakrale Findling in der Krämerei verwahrt, die fortan "zum Herrgottskramer" genannt wurde - der Name blieb dort bis heute erhalten.
Mein Schulkamerad, der Fischer Mandi, kannte wahrscheinlich die berührende Geschichte, denn er war Ministrant in Mariahilf. Der Hitlerjugend hatte er sich entzogen, die Gestapo lud ihn vor und bedrohte auch die Eltern. Eines Tages begann der inzwischen Sechzehnjährige, im Bombenschutt der alten Krämerei zu suchen. Und fand einen Balken, an den zwei verkohlte Beine genagelt waren. Es war das Rudiment des Isarkreuzes. Der Gassenbub aus dem Hinterhof steckte das Fragment in einen Kartoffelsack und bewahrte es wie eine Reliquie zu Hause auf.
Nachdem er dem Gymnasium ein Jahr vor dem Abitur entflohen war, schlug sich der Mandi wie ein Vagabund durch die Nachkriegsjahre. Als Pantomime, Puppenspieler, Operettensänger, Zeichner, Objektkünstler. 1970 machte er zusammen mit seiner jungen Frau Anette Spola im ehemaligen Schwabinger "Tröpferlbad" an der Haimhauserstraße das bis heute erfolgreich spielende TamS auf, das "Theater am Sozialamt". Dort traf ich den Hermann wieder. Er hatte sich inzwischen einen Künstlernamen zugelegt: Philip Arp.
Bald begeisterten die Ehe- und Bühnenpartner durch Valentin-Stücke, alles authentisch, kongenial. Ich versäumte keines der Programme. Erst recht nicht die "Valentinaden", die der dünne Hausherr selbst schrieb und wahrhaft verkörperte, auch die Kulissen bastelte er selbst. Philip Arp spielte zusammen mit Hube, Grünmandl, dem jungen Polt, der Biermösl Blosn. Aber nur er, dieser zerbrechliche, traurige Hinterhof-Clown konnte sich glaubhaft behaupten als legitimer Nachfolger des Karl Valentin, welcher ja auch aus der Au stammte.
Philip Arps Geheimnis
Nichts verriet mein Schulkamerad über die verkohlten Christusbeine. "Hiermit gebe ich nichts bekannt", war sein erstes und letztes Buch. Er schwieg bis zu seinem Tod.
Anette Spola, die Witwe, vermachte die verkohlten und verpackten Gliedmaßen dem Ordinariat, und dessen Kunstreferent Dr. Norbert Jocher übergab es der Heiligkreuzkirche in Giesing. "Da passt das ungewöhnliche, berührende Kunstwerk schon wegen des Kirchennamens gut hin", sagt er jetzt. Zu sehen war es jahrelang trotzdem nicht. Erst als das Gotteshaus im Oktober 2011 wegen Totalrenovierung geschlossen wurde, kam Pfarrer Engelbert Dirnberger auf die Idee, das Fundstück aus der Isar Betern und bloßen Betrachtern in einer kleinen Kapelle am Haupteingang der Kirche zu präsentieren.
In mystisches Licht gehüllt wie ein geheimnisvoller Gral, amorph wie eine abstrakte Skulptur, immer noch mit Sack und Pack von der Hand des Finders bekleidet, so erblickt man das gekrümmte Gebein eines den Wasserfluten und dem Bombenfeuer entkommenen Christus seit kurzem hinter einer gläsernen Wand. Nicht zu entziffern ist Arps Beschriftung auf einem Schild - eine Mahnung zum Frieden. Wenn Heiligkreuz nach drei Jahren wieder offen ist, kommen die schwarzen Füße des Gekreuzigten ins Entree.
Karl Stankiewitz