"Goldberg-Variationen" bei der Ballettfestwoche

Auferstehung eines legendären Mammut-Klassikers

von Isabel Winklbauer

Probensaal. Foto: Stephan Joachim

Die „Goldberg Variationen“, geschaffen 1971 von Jerome Robbins, sind ein Schatz der Ballettwelt. In Lexika und Artikeln fungieren sie als Meilenstein der Tanzgeschichte, doch aufgeführt wurden sie nie außerhalb des New York City Ballets. Auch auf Youtube sucht man vergeblich nach Fragmenten – es gibt keine Aufzeichnungen. Erst als der Choreograf 1998 starb, lockerte der Balanchine- und Robbins-Trust seine Rechtepolitik, gab Werke an andere Kompanien. So gelangte das Mammutwerk endlich nach München: Das Bayerische Staatsballett eröffnet mit den „Goldberg Variationen“ die Ballettfestwoche 2012.

Dass „Goldberg“, wie die Mitglieder des New York City Ballets das Stück nennen, auf die andere Seite des Atlantiks wandern durfte, liegt nicht zuletzt daran, dass es nun ein nicht mehr veränderbares Erbe ist. Denn Robbins war ein großer Umdisponierer. „Jerry probierte ständig Neues“, erzählt Elyse Borne, Ballettmeisterin des Robbins-Trusts, die das Stück mit den Staatsballetttänzern einstudierte. „Er hatte immer eine Version B, eine Version C, und so weiter, bis Version P. Und wir Tänzer mussten uns das merken! Wenn er zuletzt sagte: So, jetzt bitte D, wussten wir meist nicht mehr wo uns der Kopf steht.“ Borne, die ab 1972 als Solistin 15 Jahre lang sämtliche Werke Robbins’ und Balanchines tanzte, staunte auch, als sie mit ihrem Balletmeisterkollegen Ben Huys das einzige Video der Ursprungsfassung vom Robbins-Trust erhielt: „Es waren Szenen darin, die ich noch nie gesehen hatte. Ein zehn Minuten langer Pas de Deux. Unglaublich. Jerry muss das gleich nach der Uraufführung gestrichen haben.“

Fantastische Formationen: L. Engel, E. Petina, M. Chashchegorov. Foto: Stephan Joachim

Die fehlenden Teile wurden in München nicht rekonstruiert. Verständlich, denn die „Goldberg Variationen“ dauern fast 90 Minuten ohne Pause und beschäftigen fast 50 Tänzer, viele davon in mehreren Rollen. Das in zwei Teile gegliederte Werk der Kompanie überhaupt beizubringen, war eine organisatorische Meisterleistung. Seit Juli 2011 schoben die Tänzer immer wieder „Goldberg“-Proben in ihren voll gestopften Stundenplan, Verletzungen im Ensemble verursachten in den letzten Wochen obendrein ein Hin- und Hergeschiebe unter den Hauptrollen. Wo die Besetzung doch ohnehin schon kompliziert genug ist: „Ein Robbins-Tänzer muss smart sein“, sagt Borne, „er muss innerhalb einer Sekunde seine Rolle wechseln und doch immer als starker Charakter erkennbar sein." Doch nun steht das Stück. Und Borne lobt: „Es ist wirklich vielfältig genug, um jedem Zuschauer etwas zu bieten. Es ist etwas ganz Besonderes.“

1972 durfte München „Goldberg“ schon einmal sehen, im Rahmen eines Gastspiels des New York City Ballets. „Die Erbtante aus Amerika ist da“, lästerten die Kritiker damals. Zu wenig avantgardistisch erschien ihnen das Ganze. In Wahrheit sind eineinhalb Stunden Formationen, kompliziert bis zum Rausch, zu Musik von Bach nun mal keine leichte Kost. Vielleicht hatte man von Robbins, der auch erfolgreiche Musicals wie „On the Town“ und „Anatevka“ choreografierte, etwas Exaltierteres erwartet. Stattdessen erkunden Paare und Gruppen streng den Bach-Kosmos, im ersten Teil mit munter-barockem Schwung, im zweiten „eher sophisticated“, so Borne. Eine These, die zu Robbins passt – dem großen Veränderer, für den es so etwas wie eine Urfassung nie gab.

Balletmeisterin Elyse Borne. Foto: www.elyseborne.com

Was macht also den Reiz der geheimnisvollen „Goldberg Variationen“ aus? Zum einen natürlich die Formationen. „Vor allem der erste Teil ist ein tolles Showcase für Männer“, sagt Borne. „Es gibt Momente, in denen nur sie auf der Bühne sind. Sie springen, drehen, schlagen Purzelbäume. Das Publikum liebt das!“

Im Wesentlichen ist „Goldberg“ für die amerikanische Balanchine-Ballerina aber eine Art Tanzhistorie. Mit Bachs Musik als Teppich könne der Zuschauer wunderbar erkennen, dass Gutes nie alt werde, sondern sich immer neu und modern interpretieren lasse. „Der Tanz verändert sich während des Stücks“, beschreibt sie. „Am Anfang tanzt ein Paar ein leicht antikes Menuett. Am Ende erscheint dasselbe Paar, inzwischen reicher kostümiert, und tanzt noch einmal. Diesmal aber weitaus moderner.“ Dabei macht Borne ein sehnsuchtsvolles Gesicht. „Am liebsten würde ich es selbst noch mal tanzen", rückt sie heraus. "Aber da besteht leider gar keine Möglichkeit. Ich bin jedenfalls glücklich, dass wir eine Version auf die Beine gestellt haben, mit der Jerry zufrieden wäre.“

Die „Goldberg Variationen” sind zusammen mit Jiři Kyliàns „Gods and Dogs” in dieser Saison am 22.4.(Premiere), 26.4., 30.5., 8.6. und 23.6. 2012 zu sehen

Veröffentlicht am: 20.04.2012

Über den Autor

Isabel Winklbauer

Redakteurin

Isabel Winklbauer ist seit 2011 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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