Am Brunnen

von Gabriele Müller

Gelb blasiert, Meerjungfrauen fliegen, Männer reden, und Leonie hat Geburtstag.

„Wenn die Wolken da sind, dann hat die Sonne ihre gelbe Tasche zu Hause vergessen“, sagte der kleine Junge mit den roten Haaren. „Dann sagt die Sonne zu den Wolken: ,Moment mal, ich muss meine gelbe Tasche holen. Und dann kommt die Sonne mit ihrer gelben Tasche zurück, und die Wolken müssen gehen.‘“

„Meine Mama sagt immer, dass Gelb blasiert“, sagte das Mädchen neben ihm und warf Kieselsteine in den Brunnen.

Brunnen für einen Tag (Illustration: Katharina Panecke)

 

„Mein Papa malt mit Neapelgelb oder mit Nepalgelb“, sagte der andere Junge. Auf seinem T-Shirt stand „Galaktischer Unfall“.

Der Rothaarige und das Mädchen sahen ihn staunend an.

„Und wenn man gelb im Gesicht ist, dann stirbt man“, sagte das Mädchen.

*

Das Brunnenbecken war mit Pigmenten beschichtet, die je nach Lichteinfall ihre Farbe änderten. Kleine Meerjungfrauen, Giraffen, Delfine, Seepferdchen und Barbiepuppen ohne Haare wurden durch ein Labyrinth aus Glasröhren gezogen und schließlich mit einer Wasserfontäne nach oben ausgespuckt. Wenn sie dann im Becken landeten, was nicht immer der Fall war, wurden sie wieder in die Röhren gesaugt.

„Und du hast den Brunnen wirklich selbst gemacht?“

„Ja.“

„Hast du von der Stadt einen Auftrag für den Brunnen bekommen?“

„Nein. Ich hab den Platz hier gemietet.“

Sie saßen nebeneinander auf der Bank und beobachteten die Kinder am Brunnen. Ein paar Minuten zuvor hatte der eine den anderen um Feuer gebeten, und so waren sie ins Gespräch gekommen.

„Und wo hast du die Rohre bekommen und das Becken?“

„Mein Vater ist Installateur, der hat mir mit den Glasröhren geholfen. Und das Becken hab ich bei einem Steinmetz gefunden. Das hab ich dann überarbeitet. Verschiedene Lasuren. Alles Mögliche eben.“

„Und das Zeugs, das dein Brunnen ausspuckt?“

„Die Barbiepuppen und die Tiere ... das ist alles von meiner Tochter.“

„Das hat sie erlaubt?“

„Eigentlich nicht. Aber sie hat es auch nicht verboten.“

„Na, die wird sich freuen.“

„Meine Tochter ist tot.“

Beide atmeten tief durch.

„Scheiße. Das tut mir Leid. Ich bin so ein Idiot.“

„Du konntest es ja nicht wissen. Meine Tochter war krank. Sie war immer krank. Mehr krank als lebendig“, er räusperte sich. „Es war klar, mir war klar, dass sie sterben würde.“

Die drei Kinder lachten, spritzten sich mit Wasser an.

„Aber meine Frau wollte davon nichts wissen. Sie wollte ihr Kind behalten – komme, was wolle“, er zögerte: „Nervt es dich, wenn ich davon rede?“

„Nein. Überhaupt nicht. Ich weiß nur nicht, was ich sagen soll.“

„Ich hab nie darüber geredet. Aber du und ich, wir kennen uns nicht. Wir haben uns vorher noch nie gesehen, und wir werden uns auch nie wiedersehen. Das macht es leichter für mich ... irgendwie.“

„Versteh ich.“

„Meine Tochter soll nicht vergessen werden.“

„Wie heißt deine Tochter?“

„Sie heißt Leonie.“

„Ein schöner Name.“

„Ja. Finde ich auch.“

„Und deine Frau? Was ist mit deiner Frau?“

„Meine Frau. Für die ist es sehr schwierig. Meine Frau war früher ein unglaublich fröhlicher Mensch. Und dann war sie nur noch wütend. Auch auf mich. Dass ich, der Mann, der Vater, das nicht verhindert habe, diese beschissene Krankheit. Sie hat mich oft angebrüllt, dass ich was tun soll. Sie war sehr verzweifelt. Und ich habe sie lassen. Aber das war ein Fehler. Ich hätte mir nicht alles gefallen lassen dürfen. Ich hätte ihr sagen müssen, dass sie nicht die einzige ist, die leidet.“

„Na ja, wenn alle ihren Kummer zeigen, sieht das so aus, als ob das Schiff untergeht.“

„Das Schiff ist auch so untergegangen. Nur lag der Kapitän nicht am Boden.“ Er sah den Mann, der neben ihm saß, kurz an. „Ich hab meine Tochter getötet. Und es war richtig, dass ich das getan hab. Sie hat zu mir gesagt: ,Papa, jetzt mag ich nicht mehr.‘ Und dann hab ich sie getötet.“

Sie beobachteten schweigend die drei lachenden Kinder am Brunnen.

„Meine Tochter hätte heute Geburtstag. Und das hier hätte ihr gefallen. Das weiß ich. Sie war eine kleine Wasserratte. Aber wegen ihrer Krankheit konnten wir fast nie mit ihr ins Schwimmbad. Wegen der Keime.“

„Dein Brunnen ist etwas Besonderes. Sie hätte ihn geliebt. Bestimmt. Wo hast du das gelernt – Brunnen machen? Bist du Installateur wie dein Vater oder warst du auf der Kunstakademie?“

„Ich bin Krankenpfleger.“

„Krankenpfleger.“

„Ja.“

„Der Platz ist jetzt viel schöner mit deinem Brunnen. Viel lebendiger. Entschuldige ...“

„Nein. Das freut mich, wenn es so ist: lebendiger“, er zögerte einen Moment. „Ich, ich ...“

„Was?“

„Ich weiß nicht, ob ich Leonie ein guter Vater war. Ich weiß nicht, wie man für ein todkrankes Kind ein guter Vater sein kann.“

„Ich weiß auch nicht, ob ich ein guter Vater bin. Ich weiß auch nicht, ob mein Kleiner ein guter Sohn ist. Und ich weiß auch nicht, ob Jesus gewollt hätte, dass er ans Kreuz genagelt den Menschen als Souvenir erhalten bleiben würde, oder ob aus einem Neonazi nicht auch ein guter Buddhist werden kann.“ Er zuckte mit den Achseln. „Na ja, das war jetzt pathetisch.“

„Ziemlich pathetisch. Aber es stimmt. Letztendlich wissen wir ein ganze Menge nicht.“

„Ich heiße Paul.“

„Jochen.“

„Zumindest wissen wir jetzt, wie wir heißen“, sagte Paul und grinste zaghaft.

„Ein Anfang. Immerhin“, sagte Jochen.

„Er gefällt mir wirklich, dein Brunnen“, sagte Paul.

„Danke.“

„Kommst du morgen wieder hierher?“

„Nein, der Brunnen wird heute Abend wieder abgeholt“, antwortete Jochen. „Und morgen geh ich ins Gefängnis.“

Eine Gummigiraffe flog aus der Fontäne, der galaktische Unfall fing sie auf und kam mit ihr zu seinem Vater gerannt.

„Darf ich die Giraffe mitnehmen, Papa?“

„Nein, das darfst du nicht“, sagte Paul.

„Warum nicht?“

„Weil sie dir nicht gehört.“

„Wem gehört sie denn?“, fragte der Junge.

„Sie hat einem Mädchen gehört, das gestorben ist“, sagte sein Vater.

„Dann braucht das Mädchen die Giraffe doch nicht mehr.“

„Nimm sie“, sagte Jochen.

Der Junge sah seinen Vater fragend an.

„Das ist Jochen, er ist der Vater von dem verstorbenen Mädchen. Von Leonie.“

„Darf ich sie wirklich behalten?“

Jochen nickte lächelnd.

„Cool“, sagte der Junge und lief zum Brunnen zurück.

Die Männer sahen ihm hinterher.

„Kann ich dich im Gefängnis besuchen? Ich meine, das war ja nicht geplant von dir, dass wir uns wiedersehen. Aber ...“

„Aber was?“, fragte Jochen.

„Ich weiß nicht“, sagte Paul.

„Schau einfach vorbei ...“, sagte Jochen.

 

Von Gabriele Müller ist im Ars Vivendi Verlag der Kriminalroman „Dress-Code“ erschienen.

 

Veröffentlicht am: 04.05.2012

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