Kurzgeschichte
Mehr Blut und ein Küsschen
Pierre hat eine Agentur für diskrete Kriminalität und Nachwuchssorgen. Felix hat drei Selbstmordversuche hinter sich und ist offen für neue Wege.
„Ich mach alles außer Mord. Für Mord hab ich kein Talent. Bei anderen nicht – und bei mir selbst auch nicht, das hab ich schon getestet.“
„Du hast Tests gemacht in Sachen Mord?“, fragte der Mann in der Mitte. „Du hast jemand ...“
„... oh nein! Gott bewahre. Andere Menschen abzumurksen verstößt komplett gegen meine ethischen Prinzipien. Müsste ich hier etwa ...?“
Die dreizehnköpfige Jury saß hinter dem mit rubinrotem Samt aufgebrezelten Tapeziertisch. Als Snack für die sechs Damen und sieben Herren gab es Seelen mit Kümmel, Oliven mit Mandeln und Chardonnay von den Golanhöhen. Der Wein war ein Geschenk eines ehemaligen Auftraggebers, der aufgrund höherer Gewalt zahlungsunwillig werden musste.
Um den Jurytisch und den Kandidatenstuhl herum standen fünfhundertsiebenundzwanzig weiße, niegelnagelneue Kloschüsseln.
„Aber nein. Da musst du dir keine Sorgen machen, wir machen hier keine Morde“, sagte Pierre, der Präsident. „Wir machen Raubzüge.“
„Das ist schön“, antwortete er. Es war sein erstes Casting.
„Wie heißt du, Jungchen?“, fragte Pierre.
„Felix.“
Felix war einundzwanzig Jahre alt. Sein Onkel, ein Cousin des Präsidenten, hatte ihm von dem geheimen Casting erzählt.
*
Sechs Monate zuvor hatten Pierre und seine Frau die Agentur für diskrete Kriminalität ins Leben gerufen. Um der Agentur in den einschlägigen Kreisen zu mehr Popularität zu verhelfen, hatte Pierres Ehefrau eines Tages im heimischen Whirlpool den Plan zu einer Casting-Show hervorgezaubert. „Solche Shows machen sie mit Sängern auch, da kommen wahre Talente. Richtige Granaten. Echt.“
„Liebchen“, Pierre hatte seiner Frau einen Kussmund zugeworfen, sich umgedreht und ihr die Sapone con principio attivo mit Bergamotte gereicht, damit sie ihm den Rücken einseifen konnte. „In meiner Branche kann man Amateure nicht gebrauchen. In der Politik, bei der Polizei oder meinetwegen in Hollywood, da kommt es auf einen Idioten mehr oder weniger nicht an. Wir aber haben ein seriöses Unternehmen. Wir sind eine Agentur, die Profiverbrecher vermittelt. Uns kennt man. Gewisse Leute zumindest. Wir haben einen guten Ruf zu verlieren.“
„Ja, aber uns gehen die Leute aus“, hatte Liebchen geantwortet und den Rücken des Präsidenten beschrubbt. „Das ist wie bei jedem anderen Handwerk auch. Die klagen auch immer über Nachwuchs. Und, Chérie: Auch wir müssen mit der Zeit gehen. Smartphone, Flatrate, WLAN, du kannst heute nicht wie vor hundert Jahren eine Postkutsche überfallen oder falsche Impressionisten verscherbeln. Deine Eltern haben so was gemacht. Meine Eltern haben so was gemacht. Das waren die guten alten Zeiten. Aber heute. Heute musst du ja andauernd Angst haben: Scheinselbstständigkeit, Abgeltungssteuer, Absatzschwierigkeiten – Probleme, wo man hinschaut. Dreimal mussten wir jetzt schon das Gewinnziel für das laufende Geschäftsjahr korrigieren. Wie soll das denn weitergehen. Und ich: Seit zwei Jahren arbeite ich festangestellt. So was hätte es früher doch nicht gegeben. Auf Steuerkarte arbeiten. Eine wie ich.“
Liebchen setzte sich durch.
*
„Aber an dir selbst, wie oft hast du das schon getestet?“, fragte Pierre, trocknete sich die tränenfeuchten Augen und verbiss sich in die Kümmel-Seele. „Du weißt schon ... Du bist doch noch ein junger Kerl.“
„Mein Mann ist sensibel, denk dir nichts“, sagte Liebchen, die rechts neben dem Präsidenten saß, „der heult auch bei der Werbung. Merci, dass es dich gibt. Da heult er. Das musst du alles nicht persönlich nehmen.“
„Ich nehm das nicht persönlich.“
„Und?“, fragte Pierre.
„Dreimal“, antwortete Felix.
„Dreimal muss reichen. Wenn du’s nach dreimal nicht draufhast, dann ist es nicht dein Ding.“
„Finden Sie das wirklich?“
„Ja. Wieso hast du das überhaupt gemacht?“
„Weil ich nicht stimme.“
„Warum stimmst du nicht?“
Felix schwieg.
„Erklär mir das.“
„Das kann man nicht so leicht erklären.“
„Jungchen, ich hab hier einen Haufen Kloschüsseln. Die haben wir geklaut. Und glaub mir, das war richtig Arbeit. Diese Kloschüsseln müssen nach China, nach Indien ... Damit die Leute dort auch anständig... Du weißt schon. Fünfhundertsiebenundzwanzig Kloschüsseln – das, mein Freundchen, das sind Sorgen. Wir haben die Schüsseln, und die anderen haben sie nicht, kapiert! Ich versteh, dass einer eine Kloschüssel haben will. Ich versteh aber noch immer nicht, warum du nicht stimmst?“
„Ich kann es nicht sagen.“
„Dann schreibst du es auf.“
„Komm ich dann in den Recall?“
„Wohin?“, fragte Pierre.
„Kann ich dann wiederkommen?“
„Das kannst du machen.“
Felix stand auf: „Soll ich jetzt den nächsten Kandidaten reinholen.
Die zwölf Beisitzer grinsten.
„Es gibt keinen nächsten Kandidaten. Du bist der einzige“, sagte Pierre.
„Kann ich dann nicht bleiben? Wenn es keine Konkurrenz gibt.“
„Selbst wenn wir wollten, können wir nicht. Wir sind eine kriminelle Organisation. Und du hast überall keine Erfahrung nicht.“
„Er könnte ein Praktikum bei uns machen“, sagte Liebchen und nippte an den Golanhöhen.
„Ein Praktikum?“, fragte Felix.
„Warum nicht“, sagte Pierre. „Als Arbeitgeber muss man sich für die Jugend einsetzen. Ich biete dir ein Praktikum an. Mit Familienanschluss.“
*
Seitdem wischte Felix mit einem Staubwedel aus Straußenfedern die Porzellanschüsseln ab, und seitdem durfte er den Chef duzen.
„Wichtig ist, dass die antistatisch sind“, hatte Pierre erklärt. Er selbst hatte einen handgefertigten Feudel aus Ziegenhaar, dessen Kopf beweglich war. Wenn er feudelte, sang er Lieder von Daliah Lavi.
Gelegentlich verschoben Pierre und Felix die Toilettenschüsseln. Wie man Möbel in der Wohnung umstellte, wenn man das Bedürfnis nach Veränderung hatte. Sie probierten vieles aus, besprachen sich, fotografierten die neuen Arrangements, machten ein Päuschen.
Im Laufe der Zeit hatten sie auf allen fünfhundertsiebenundzwanzig Schüsseln Platz genommen und viel geredet.
Die Lagerhalle war Felix ein zweites Zuhause geworden. Er kam gern hierher. Die Arbeit war übersichtlich. Und wenn er nicht mit dem Feudel wedelte, machte er Notizen in ein Heft.
„Du musst kein ganzes Buch schreiben“, sagte Pierre, wenn er Felix beim Schreiben erwischte. „Es reicht, wenn du ein paar Gründe findest. Du musst dir da keinen Stress draus machen, Jungchen. Ich will einfach nur verstehen, warum ein junger Kerl wie du sich andauernd umbringen will.“
„Dreimal.“
„Gut dreimal.“
„Da gibt es nichts zu verstehen, wirklich“, sagte Felix und rückte seine Schüssel näher zum Chef. „Findest du, dass man das nicht darf, sich umbringen?“
„Man darf alles, man muss nur wissen, dass es Konsequenzen hat.“
Sie saßen einander gegenüber, Felix mit seinem Straußenfedernfeudel, Pierre mit seinem Ziegenhaarfeudel.
„Ich sag halt immer, dass es darum geht, dass man weitermacht“, sagte Pierre.
„Oder warum man weitermacht“, sagte Felix.
Pierre schüttelte den Staub aus seinem Feudel.
„Kannst du mir versprechen, dass du das nie wieder machst?“, fragte Pierre.
„So was kann man nicht versprechen“, sagte Felix. „Es gibt keine Garantie für mein Leben. So wie es für deine Kloschüsseln keine Garantie gibt, dass sich je ein Chinese auf sie setzen wird.“
*
Nach einem Jahr beendete Felix das Praktikum.
Es sei schön hier, sagte Felix, aber jetzt müsse er gehen. Zum Abschied reichte er seinem Chef einen dicken Stapel Papier.
„Was ist das? Sind das die Gründe?“
„Nein. Das ist ein Krimi. Ich dachte, das passt besser zu deinem Gewerbe als meine Selbstmordversuche.“
*
„Und?“, fragte Felix, als sie sich ein paar Wochen später in der Lagerhalle wiedertrafen, wo Pierre die Kloschüsseln zu einer Pyramide aufeinander stapelte.
„Der Krimi?“, fragte Pierre.
„Der Krimi.“
„Ich find’s prinzipiell gut. Aber es braucht mehr Action. Mach ein bisschen mehr Blut rein und dafür am Schluss ein Happy-End. Das wollen die Leute, glaub mir. So ist es zu traurig. Erst richtig brutal und dann am Schluss ein Küsschen ist vernünftiger.“
„Ein Küsschen?“
„Ja, ein Küsschen“, sagte Pierre und spitzte die Lippen. „So was.“