Kurzgeschichte

Madame

von Gabriele Müller

Madame fliegt mit einem Stabhochspringer in den Himmel, ein Sprungturm kracht zusammen, und zwei Brüder trinken Genmai Kukicha.

„Ich hab mit einer Taube getanzt.“

„Rumba oder Discofox?“

Miran nahm einen Schluck von dem Genmai Kukicha. Als er ihn das erste Mal in dem japanischen Lokal bestellte, meinte der Besitzer, dass ein Tee mit gerösteten Reiskörnern nicht das richtige Getränk für ihn sei. „Zu speziell.“ Erst viele Besuche später konnte Miran ihn überzeugen, und sie wagten einen Versuch.

„Es war Madame, ich hab mit Madame getanzt“, sagte er und stellte die Tasse zurück.

Die Augen seines Bruders füllten sich mit Tränen.

*

Was die Leute in dem Gebäudekomplex arbeiteten, wusste Miran nicht. Es war ihm auch egal.

Er putzte hier in dem riesigen Foyer, fuhr mit einem Reinigungswagen über die dunklen, quadratischen Bodenplatten. Eine einzige lange Spur brauchte er, nie durchbrach er sie. Mal fing er kreisförmig von außen an, mal von innen, er arbeitete in zwei Hälften oder in geraden Linien auf und ab. Und am Schluss kam er exakt neben der Startposition wieder an.

Miran und das Putzmobil waren ein eingespieltes Team, es gab kein affektiertes Beschleunigen, keine riskanten Manöver. Das Putzen war ein stiller, ruhiger Fluss.

In der Mitte des Foyers stand unter einer Kuppel eine zwanzig Meter hohe Lichtsäule aus vielen hauchdünnen Glasplatten, die wie eine Spirale nacheinander nach unten kippten, aufleuchteten und sich dann wieder nach oben drehten. Erstrahlte die unterste Platte, sprang ein gläserner, jedes Mal in einer anderen Farbe leuchtender Stabhochspringer hoch und brachte die oberste Lichtplatte zum Kippen.

Es kam Miran vor, als ob er in einer Weltraum-Disco arbeitete. Meistens hörte er Musik von seinem iPod. Und meistens war es Reggae. Drogen nahm er nicht mehr, auch Alkohol trank er keinen mehr. Er war achtsam geworden, aber Bob Marley treu geblieben.

Zusammen mit seinem jüngeren Bruder hatte er einen Schallplattenladen eröffnet, dort gab es ausreichend Damenbesuch, aber zu wenig Einnahmen, weshalb beide nebenher jobbten.

„I wanna love you ...“ Miran fuhr seine Bahn und sang laut: „I wanna love you and treat you right …“

Feuer in der Nacht. Foto: gr.

 

Da ist sie vor ihm, sitzt mitten auf seiner Bahn, sieht ihn von der Seite an. Eine weiße Taube, nicht unspektakulär schön, aber von Anmut. Wie Madame. Madame hatte einen Verleih für Ruderboote gehabt. Das war in einem anderen Land, in einem anderen Leben gewesen. Alle hatten sie geliebt. Ihr Mann, die Gäste, die Kinder. Ihr Mann nannte sie „Täubchen“, sein Täubchen mit dem zarten, verträumten Gesicht, dem Kurzhaarschnitt und den weißen knielangen Spitzenkleidchen, die sie immer trug, so als ob sie jeden Tag Hochzeit spielen wollte. Alle anderen nannten sie Madame. Und selbst als der Krieg nicht mehr zu überhören war, blieb Madame ein Täubchen. Schaute von der Seite, beobachtete aus den Augenwinkeln heraus die anderen, was die gerade anstellten.

Im Sommer gingen Miran und sein kleiner Bruder Darko schon frühmorgens zu Madame, weil sie vor der Schule im See schwimmen und von dem hölzernen Sprungturm ins Wasser springen wollten. Wenn sie aus dem Wasser kamen, hatte ihnen Madame einen Teller mit Marmeladenbroten und einen Krug mit heißem Kakao auf den Holztisch vor ihrem Haus gestellt.

Ihre Eltern sahen es nicht gerne, dass die beiden Jungen allein zum See gingen, sie schimpften und sagten, dass das gefährlich sei. Madame würde auf sie aufpassen, sagte Miran, und Darko meinte, dass Madame Marmeladenbrote und Kakao für sie zauberte und deswegen seien sie unverwundbar.

Als sie eines Tages wieder heimlich zum See liefen, rochen sie es schon von Weitem: verbranntes Holz. Die Ruderboote und die Anlegestelle waren verkohlt. Der Sprungturm mitten im Wasser brannte noch, bevor er in sich zusammenfiel. Auf dem Boden vor dem Haus fanden sie Scherben von ihrem Kakaokrug. Madame und ihr Mann waren nicht mehr zu erkennen.

Die unspektakuläre Taube sieht Miran von der Seite an, bewegt sich keinen Millimeter.

„Madame“, sagt er und hält den Putzwagen an.

Sie hüpft weiter, er fährt ihr hinterher, kommt von seiner Spur ab. Sie dreht sich von ihm weg, er umkreist sie. Sie bleibt stehen, er bleibt stehen. Sie fliegt auf ihn zu, flattert um ihn herum. Mal von links, dann von rechts. Landet auf einem Quadrat, hüpft zum nächsten. Reckt den Kopf hoch, lässt ihn nach unten sinken. Verweilt in Ruhe.

„We’ll be together with a roof right over our heads“, singt Miran weiter, und sie sieht ihn wieder von der Seite an. Hüpft hin und her, fliegt auf ihn zu und landet auf dem Lenkrad. Er wird sie nicht berühren, sie soll auf ihn zukommen.

Die Musik stört ihn, er nimmt den Kopfhörer ab, als Madame davonfliegt, sich auf den Kopf des Stabhochspringers setzt und mit ihm hoch zur Kuppel des Foyers schwebt. Oben flattert sie aufgeregt umher, um sich dann kopfüber herunterzustürzen. Kurz vor dem Boden zieht sie nach oben, fliegt auf Miran zu und lässt sich auf seiner ausgestreckten Hand nieder.

Miran steigt von seinem Putzmobil, geht langsam zu der großen Drehtür.

„Ganz ruhig, Madame, da müssen wir durch, und dann ...“

Als sie im Freien sind, verweilt sie noch einen Moment auf seiner Hand, bevor sie wegfliegt.

Er sieht ihr hinterher, lächelt und setzt seine Kopfhörer wieder auf.

*

Miran nippte an seinem Genmai Kukicha. „Ich hab sie wirklich gesehen. Ich hab Madame gesehen. Und wir haben getanzt.“

Darko weinte still die Tränen, die er für sich behalten hatte, damals als die Eltern spurlos verschwunden waren. Als alle Häuser im Dorf brannten, als er mit seinem großen Bruder flüchtete. Als der zu ihm sagte, dass sie sich seine Heulerei jetzt nicht leisten konnten, und ihm eine knallte, als er trotzdem wieder anfing zu weinen. Und ihn noch öfters schlug, bis er es verstanden hatte und die Tränen herunterschluckte. Und als es kalt wurde in der Nacht, hatte Miran seinen dicken Pullover ausgezogen und ihm gegeben.

„Weißt du noch, wie Madame beim Tanzen so wippte, als ob sie gleich hüpfen wollte, und immer auf Abstand, immer für sich, den Kopf zur Seite?“, fragte Darko. „Und dann diese französischen Chansons. Kein Wort hab ich verstanden.“

„Keiner hat ein Wort verstanden.“

„Ich war damals in Madame verliebt.“

„Alle waren in Madame verliebt“, sagte Miran.

„Nicht alle, sonst hätten sie sie nicht getötet.“

Als Darko nicht aufhörte zu weinen, brachte ihm der Japaner ein Kännchen Genmai Kukicha.

„Das ist ein Kompliment“, sagte Miran und trocknete mit den Händen die Tränen auf den Wangen seines Bruders.

Veröffentlicht am: 22.06.2012

Über den Autor
Andere Artikel aus der Kategorie