Die "Manics" und eine Münchner Geschichte
Ganz hinten winkt Fidel Castro - Danke für die Erinnerung
Die beste Zeit: Manics-Bassist Nick Wire (rechts) mit Michi Sailer (Mitte) und Comics-Bassist Tall Vale1993 im Kölner Luxor. Foto: Archiv Sailer
Vor kurzem spielten die Manic Street Preachers mal wieder in der Theaterfabrik - der Münchner Autor und Musiker Michi Sailer erzählt aus diesem Anlass von seinem Verhältnis zu einer Band, die ihn geprägt hat wie keine andere.
Wenn eine Band nach 25 Jahren und zehn Studioalben mit einer Compilation auf Tour geht, die 38 Singles enthält, von denen 24 die britischen Top 20 erreichten ... dann könnte man mit ironistisch angespitztem Kußmund von einer „Zwischenbilanz“ sprechen. Bei den Manic Street Preachers verbieten sich derlei musikschreiberische Dummphrasen von je her; sie sind – über das kommerzielle Zahlengeklimper hinaus – eine Band wie keine andere. Zumindest für den Autor dieser Zeilen: Niemand hat mein popmusikalisches Bewußtsein von 1991 bis 2001 (und nachwirkend bis heute) so geprägt wie sie, keine Band habe ich öfter getroffen, interviewt, live gesehen; ich war sogar in ihrem Vorprogramm auf Tour, dazu später mehr.
1991 also. Damals erschien die Single „Motown Junk“ mit der epochal programmatischen Zeile „I laughed when Lennon got shot“, die zu einem Aufschrei führte – weniger der Empörung als belustigter Ungläubigkeit: Vier junge Waliser, die inmitten der alles übersumpfenden Langeweile von Bryan-Adams-Stadionrock und Kapuzenjacken-Indiepop mit Lippenstift und Glamrock-Posen, Punk-Grundsatzaggression und einem situationistischen Parolengewitter („25 years of boredom – nothing means anything to me“) daherkamen und behaupteten, sie wollten Guns n’ Roses mit Public Enemy verschmelzen, 20 Millionen Platten verkaufen, die Welt verändern und sich dann wieder auflösen – hö hö, raunte das wissend-coole Style-Establishment, das ein Vierteljahrhundert später gar nicht mehr so gut dasteht, denn die 20-Millionen-Marke dürfte die Band (wenn auch nicht so schnell wie damals gedacht) weit überschritten haben, die Welt ist zweifellos eine andere, und einst belächelte Slogans wie „Culture, Alienation, Boredom & Despair“ sind tatsächlich „National Treasures“ (wie das Singles-Album breitbrüstig betitelt ist). Ganz abgesehen davon, daß die Manic Street Preachers heute vielleicht die größte Rockband der Welt sind, in etwas anderer Sicht aber jedenfalls: die einzige.
Nicht immer die Eleganz der großen Zeiten
Überraschen kann da natürlich nichts mehr, abgesehen vielleicht von der unerwarteten Rückkehr des 1995 verschwundenen Bandgenies und „Gitarristen“ Richey Edwards, der tatsächlich hinter/neben James Dean Bradfield auf der Bühne der Münchner Theaterfabrik zu stehen scheint, jung, gesund und hübsch wie 1991, und während die hymnische Brandung von „Motorcycle Emptiness“ in „Forever!“-Chören aus dem übereuphorisierten Publikum zurückschallt, versinke ich für einen Augenblick in dieser Vorstellung. Aber nein, freilich: Es ist Wayne Murray, der da steht und spielt (und singt!), und selbstverständlich steht er zwei Schritte abseits von jener großen Lücke, die Richey damals hinterlassen hat.
Damals ... ist gleich wieder vorbei. „Your Love Alone Is Not Enough“ folgt und erinnert mich daran, wie viel passiert ist, seit ich die Band das letzte Mal gesehen habe, vor mehr als zehn Jahren, und daß nicht alles davon die seiltänzerische Eleganz und Sicherheit der großen Zeiten hatte. Die übrigens für mich damals am 18. Februar endeten, als ich spätnachts/frühmorgens mit James Dean Bradfield auf der Terrasse des Hotel Nacional in Havanna stand und wir irgend etwas plauderten, was mir als halcyonische Ruhe im Gedächtnis geblieben ist nach dem Sturm der Jahre und dem alles erschütternden Erlebnis jener Tage auf Kuba, wo die Manic Street Preachers als erste „westliche“ Band auftraten, mit Fidel Castro über die Lautstärke von Kriegen diskutierten und wir uns im Überschwang spätjugendlicher Begeisterung von einer freundlich-irritierten Grenzbeamtin die Pässe stempeln ließen, um nie mehr in die USA reisen zu müssen – damit sind wir bei „Ocean Spray“, James’ erstem Beitrag als Texter, mit dem er den Tod seiner Mutter überwand, und bei „Know Your Enemy“, dem wunderbaren, ewig unterschätzten Album, mit dem die große Zeit der Manic Street Preachers paukenschlagartig zu Ende ging.
„See you“, sagten wir damals, und wußten wohl beide, daß das dauern würde, wenn überhaupt.
Ein Band gewordenes Photoalbum
„Love’s Sweet Exile“ taucht wieder zurück in die randalöse Frühzeit, erinnert auch daran, wie grandios das erste Album als Konzept und wie enttäuschend es zu hören war: steril, komprimiert und unlebendig, ein ödes Plastik-Hardrock-Fließband mit ein paar Höhepunkten wie diesem, der übrigens erstaunlich gut gealtert ist. „It’s Not War (Just The End Of Love)“ von 2010 ist zweifellos handwerklich der bessere Song, geht aber trotzdem links rein und rechts wieder raus wie eine beliebige Autoradionudel, abgesehen von dem Gedanken, daß eine der Grundregeln dieser Band doch einst lautete: Keine Liebeslieder! Jetzt sind wir bei Song Nummer fünf und hatten schon dreimal „Love“ im Titel ...
„The Everlasting“ macht dann klar, was das hier ist: eine lebende Erinnerung, ein Band gewordenes Photoalbum. James (der eingangs erklärt, wieso er das Lied nie spielen wollte) trägt dieselbe Frisur wie 1998, Nicky Wires federboageschmückter Mikroständer ist ebenso ein Relikt wie seine routinierten Scherensprünge, bei denen er sich (bei „Found That Soul“) auch mal den Baßkopf an die Backe haut, und äußerlich ist auch er seit 1998 nur noch gealtert – kann man das als Mitglied dieser Band in Würde?
Schon wieder Liebe
Aber freilich, besser wahrscheinlich als die meisten Generationskollegen: nicht altern, sondern reifen eben, auch wenn das paradox erscheint und vollkommen undenkbar erschien, als die Coverversion des M.A.S.H.-Titelsongs „Suicide Is Painless“ die Manics 1992 erstmals in die britischen Top Ten brachte. „Münisch, wie geht es dir? Du bist sehr schön“, sagt Nick danach, und denkt da jemand wehmütig an Zeiten, als der Mann mit dem schönsten Cheshire-Cat-Grinsen der Popgeschichte sein Mikro vornehmlich dazu nutzte, Skandale zu erzeugen, indem er Michael Stipe Aids wünschte, den Moshpit von Glastonbury als „Scheißloch“ bezeichnete, über das man Brücken bauen sollte, Billy Bragg die Benutzung seiner Toilette untersagte, ehe er dann plötzlich in Interviews nur noch von seiner Begeisterung fürs Staubsaugen sprechen mochte?
Schon wieder die Liebe: „The Love Of Richard Nixon“ bringt uns in die tote Zeit Mitte der Nuller-Jahre, als eine scheinbar tote Band mit einem toten Album scheinbar Abschied nahm von der Welt. Scheinbar, denn „Lifeblood“ ist vergessen, aber die Vergangenheit lebt weiter, und wenn Nick vor dem wie eh und je ebenso charmanten wie doofen „Revol“ von der „wonderful world of Mister Edwards“ erzählt, der sich dazumal auf der ersten Deutschlandtour in München mit Johnnie Walker Black Label endgültig abgeschossen habe, möchte ich innerlich lächelnd widersprechen (es war Wodka, aber egal): Ich war dabei auf dieser Tour im dauerdunkelgrauen Herbst 1993, als Richey von einer KZ-Gedenkstätte zur nächsten taumelte, James mich fragte, was die Wörter „Lebensraum“ und „Kulturkampf“ bedeuten und Nick an einem wüsten Abend in Nürnberg die Band auflösen wollte, weil Richey auf Einladung unseres Gitarristen die zweite Grundregel (Keine Drogen!) gebrochen hatte und eine Treppe hinuntergestürzt war. Aber klar, es war oder ist auch wonderful, auf bitter-reminiszente Weise; und so besänftigen wir die Furien der Erinnerung mit langem, bewegtem Beifall in versöhnlich grünem Kryptonitlicht.
Das Publikum altert mit seiner Band
„Tsunami“ tut das wirklich: Es wäscht alles weg, und „A Design For Life“ bleibt für immer der Gipfel eines Lebens mit den Manic Street Preachers. Danach ermüdet die Band, ermüden auch wir, zwangsläufig und wohlig, lassen uns warm umfluten von einem ziemlich disparaten und erratischen Restprogramm, das eigentlich mit „From Despair To Where“ enden könnte, aber erst die zweite Hälfte erreicht. „There By The Grace Of God“ hätte es heute so wenig gebraucht wie 2002, „You Love Us“ hatte sich in seiner brachialen Steinköpfigkeit bereits 1993 totgelaufen, „Everything Must Go“ ... die 40-Minuten-Sets früher Tage hatten schon auch ihren Charme. „Slash & Burn“ klingt wirklich müde, beim The-The-Cover „This Is The Day“ wird es Zeit zum Luftschnappen und Bierholen, „You Stole The Sun From My Heart“ und „Some Kind Of Nothingness“ liefern die unauffällige Hintergrundbeschallung für wehmütig-fröhliche Veteranengespräche. Denn natürlich ist mit der Band auch ihr Publikum gealtert; es ist ja weitgehend dasselbe wie damals. Daß die Musiker die Tournee wie eine Urlaubsreise gesetzter Männer in den besten Jahren organisiert haben (keinerlei Eskapaden und Ansprüche, aber bitte die gemütlichsten Hotels!), ist auf seine Art das, was diese Band immer vor allem war: konsequent.
Das Finale: „Little Baby Nothing“ und „Motown Junk“ sind beide nur als Abziehbilder tauglich, aber das kann und mag niemand mehr verwerflich finden – zu versöhnt sind wir inzwischen alle mit uns und der Vergangenheit und irgendwie auch mit der Gegenwart, und die weltumarmende Herzenswärme von „If You Tolerate This Your Children Will Be Next“ hinterläßt am Ende ein schwebendes Gefühl allumfassender Zufriedenheit und Leichtigkeit: War schön, Freunde, euch mal wiederzusehen, danke für die Erinnerung, und vielleicht gibt es wirklich gute Gründe, sich auf ein reifes Alterswerk zu freuen, irgendwann dann.
Michael Sailer
Der Autor behält sich die Freiheit, seine Schreibe alle Reformen überdauern zu lassen.