Anja Harteros mit Traviata bei den Festspielen

Wenn das Theater zum echten Leben wird

von kulturvollzug

Anja Harteros. Foto: Marco Borggreve

Ein Raunen geht durch die ersten Reihen – „Da ist sie!“ – hört man eine aufgeregte Opernbesucherin wispern. Anja Harteros hat gerade die Bühne der Bayerischen Staatsoper betreten und wird gleich das Trinklied aus La Traviata anstimmen. Der Großteil des Publikums ist wohl tatsächlich wegen ihr gekommen, um die Chance zu nutzen – wer weiß, wie lange sie diese Rolle noch singt.

Dabei sind Ramón Vargas und Simon Keenlyside zwei sehr überzeugende Argumente für den Kauf von Festspielkarten zu gesalzenen Preisen. Der Alfredo von Ramón Vargas ist derzeit sicher einer der berühmtesten. Hohe Töne singt er mit Leichtigkeit und schauspielerisch liefert er das ob, was man von einem italienischen Tenor eben erwartet. Der Schmelz in seiner Stimme passt wunderbar zum Alfredo, auch wenn man den schon mal mit mehr Stimme gehört hat.

Simon Keenlyside beweist sich als charakterstarker Schauspieler. Er spielt den Vater Alfredos, Giorgio Germont, der von der Hysterie des Nachwuchses leicht enerviert ist. Sein reizvoll unwirsches Timbre braust wie die britische Küste und passt damit wunderbar zu dem Patriarchen, der mit der Schmachterei der Jugend nichts mehr anfangen kann.

Dass Omer Meir Wellber einer der Favoriten Daniel Barenboims ist, überrascht nach diesem Traviata-Dirigat nicht mehr. Der 31-Jährige ist ein richtiger Theatermusiker, immer Feuer und Flamme für die emotionalen Zustände der Figuren. Aus dem Festmahl bei Violetta im ersten Akt macht er eine krachende Party, ohne dabei die Stimmen der Sänger zu überwalzen, und weint mit Violetta um die verlorene Liebe.

Über Anja Harteros wundert man sich anfangs ein wenig: Im ersten Akt wirkt sie in all dem Trubel fehl am Platze, hier und da gibt es sogar rhythmische Unsicherheiten, die Wellber, der an ihren Lippen hängt, souverän ausgleicht. Dann, im zweiten Akt liefert sie sich ein intensives Psychoduell mit Keenlyside und ist herzzerreißend verletzt durch Alfredos Erniedrigung. Mit den letzten Liebeserklärungen Violettas im dritten Akt steigert sie sich weiter und ergreift schließlich das ganze Publikum mit einem so intensiven Piano, wie man es wirklich nur selten hört.

Nachdem der Vorhang gefallen ist, fließen Tränen. Nicht nur Violetta Valéry, sondern vor allem Anja Harteros hat da geweint. Sich vor ausverkauftem Haus so zu entblößen, dazu gehört viel Mut! Was auch immer in ihr vorgegangen sein mag, der Jubel der ihr treuen Münchner mag sie wenigstens ein bisschen getröstet haben.

Sarah Hilgendorff

Veröffentlicht am: 03.08.2012

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