"Dance"-Festival im i-camp

Tanz labiler Gleichgewichte

von Michael Wüst

Tanz der Materie. Minimalismus, den Blick in die Tiefe öffnend. Nicole Beutler, die bildende Kunst, Tanz und Choreographie in München, Münster und Amsterdam studiert hat, zeigte im i-camp im Rahmen von Dance 2012 mit "2: Dialogue with Lucinda" ihre Bearbeitung zweier Stücke von Lucinda Childs: "Radial Courses" (1976) und "Internal Drama" (1977).

"Radial Courses": Das Dilemma aus formaler Stringenz; Foto: Anja Beutler

Teil eins, "Radial Courses": Das Publikum wird durch den Bühneneingang auf das Podium geführt und stellt sich im Kreis auf. Vier Tänzer (Airen Koopmans, Naiara Mendioroz, Aimar Pérez Gali, Javier Vaquero Ollero) beschreiten sogleich in aufgeräumt ungerührter Beflissenheit zwei konzentrische Kreise knapp am ebenfalls kreisförmig platzierten Publikum. Dies geschieht von A bis Z im Gleichmaß von acht Füßen, die ein vier Viertel-Uptempo intonieren. Nur, der innere Kreis ist im Durchmesser kleiner als der äußere. Gleicher Rhythmus in ungleichen Maßverhältnissen muss aber gehalten werden - Dilemma aus formaler Stringenz. Lucinda Childs, die schon früh in den 60er Jahren am "Judson Dance Theatre" in Greenwich Village bei Robert Dunn, einen Schüler von John Cage studiert hatte, steht mit ihrem Postmodern Dance für den Tanz labiler Gleichgewichte.

Die Tänzer der Radial Courses lösen nun dieses Problem, indem sie sich von außen nach innen und umgekehrt durch tauschen. Es entsteht so das Pulsare zweier Bänder, die sich ineinander verschlingen und durchdringen, die Form von zwei konzentrischen Kreisen aber erhalten, weil sie sie ständig erneuern. Plötzlich, Drehung von zwei Tänzern, die synchron in einen Shuffle-artigen Jump ausbrechen und gegen den verblieben Kreis laufen. Der vier Viertel-Takt bekommt nun einen treibenden Auftakt – stabile Krise. Präzise, teilnahmslos, Rotunden im Teilchenbeschleuniger. Das Tao der Materie?

Sarkastischer Tanz des Chaos; Foto: Anja Beutler

Teil zwei: Das Publikum wird auf die rückwärtige Tribüne verwiesen, nun gehört die Bühne den Tänzern alleine, im Verhältnis von zwei zu drei. Morjolein Vogels ist hinzugekommen. Die Tänzer bilden jetzt ein gleichseitiges Dreieck. In der Originalfassung von Lucinda Childs wurde "Internal Drama" ohne zugespielte Musik aufgeführt. In der Fassung von Nicole Beutler spielt die Musik von Gary Shepherd, in Zusammenarbeit mit dem Pianisten Aleksander Grujic, allerdings eine bedeutsame Rolle.

Das Verhältnis von zwei zu drei stellt die Urspannung in der Musik dar. Hier Stabilität zu erreichen erfordert ein Höchstmaß an Disziplin. Im Tanz exemplifiziert sich das in einem gleichförmigen Halten und Zerfallens des Dreiecks unter Drehungen und oszillierenden Sprüngen der Tänzer. Die Musik beginnt gnadenlos synkopisch bezeichnenderweise mit dem Schlag eines Triangels. Während sich der Tanz des Dreiecks gleichmütig perpetuiert, scheint die Musik unter Hinzunahme von Aufschlaghölzern, Elektronik, schließlich Klavier einen sarkastischen Tanz des Chaos entfachen zu wollen. Die Truppe bleibt aber in geradezu höfischer Größe unberührt und behauptet die Harmonie der Schöpfung. So spannend kann Minimalismus sein!

 

Veröffentlicht am: 27.10.2012

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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