Start des neuen Staatsballett-Programms

Drei in einem bei "Forever Young" - Blick auf 70 Jahre Tanzgeschichte

von Gabriella Lorenz

Tanz wird Akrobatik: "Broken Fall". Foto: Wilfried Hösl

Pech für Lucia Lacarra: Weil sich bei der Generalprobe ein Tänzer verletzte, wurde das ganze Trio in "Broken Fall" ausgetauscht. So tanzten bei der Premiere Stephanie Hancox, Matej Urban und Nikita Korotkov die halsbrecherische Choreografie von Russell Maliphant. Sie eröffneten das neue Staatsballett-Programm "Forever Young", das drei Klassiker des Modern Dance zu einem Rückblick auf 70 Jahre Tanzgeschichte bündelt.

Als nicht so ewig jung erwies sich dabei die Wiederbelebung von Léonide Massines Ballett "Choreartium" durch dessen Sohn Lorca Massine: Die mutet eher als museales Zitat an. Das Publikum feierte das brillante Ensemble mit Jubel-Applaus.

Abräumer ist Maliphants "Broken Fall", das er 2003 für Sylvie Guillem kreierte.  Authentizität verbürgt die Einstudierung durch William Trevitt und Michael Nunn, Guillems Uraufführungs-Partnern. Tanz wird Akrobatik: Drei Körper widersetzen sich katzenhaft geschmeidig der Schwerkraft, gleiten und rollen aus Sprüngen und Hebungen heraus übereinander weg. Die Frau hält die Spannungslinien zu den Männern, lässt sich von den Schultern des einen in die Arme des anderen fallen  -  immer mit Absturz-Gefahr.

Einen Zeitsprung zurück macht José Limóns Othello-Extrakt "The Moor's Pavane" von 1949. Zu Purcells Musik entwickeln vier Figuren in Renaissance-Kostümen aus dem höfischen Schreittanz Pavane ein Psychodrama - einstudiert von der Limón-Mitarbeiterin Sarah Stackhouse. Cyril Pierre (Mohr), Séverine Ferrolier (Desdemona), Tigran Mikayelyan (Jago) und  Gözde Özgür (Emilia) füllen die strenge Form  mit emotionaler  Leidenschaft: Liebe, Verrat, Tod - alles drin in 20 Minuten.

Léonide Massines "Choreartium". Foto: Day Kol

Ob Léonide Massines "Choreartium" schon Modern Dance ist, bleibt zweifelhaft. Das Bewegungsvokabular ist noch ganz der russischen Ballettklassik verhaftet. Revolutionär war, dass der berühmte Tänzer und Choreograf von Diaghilews Ballets Russes 1933 erstmals sinfonische Werke als Partitur nutzte. Nach Tschaikowskys "Les Présages" war "Choreartium" zur 4. Symphonie von Brahms sein  zweiter Versuch - und die erste völlig abstrakte Choreografie.

Sein Sohn Lorca Massine verzichtet in seiner Rekonstruktion auf pittoreske Ausstattung. Aber gerade die grafische Lamellen-Kulisse und die regenbogenfarbenbunten Frauenkostüme von Keso Dekker enthüllen den Tanz als dekorativ. Das heroische Pathos ist gewöhnungbedürftig. Doch Massine erschafft mit über 40 Tänzern immer wieder eine strenge Raum-Architektur. Im elegischen 2. Satz schreiten 18 Frauen in langer Reihe mit verschränkten Armen herein, angeführt von Lucia Lacarra als trauernder Priesterin. Das ist auf altmodisch wirkende Weise in seiner antikischen Herbheit als Bild höchst beeindruckend.  Mit erhobenen Armen bilden die Damen sogar den Mailänder Dom nach. Beeindruckend sind neben Lucia Lacarra auch die Solistinnen Lisa-Maree Cullum und Ivy Amista, aber das eigentliche Ereignis ist das fabelhafte Corps de Ballet. Das Staatsorchester unter Robertas Servenikas spielte den Brahms wenig transparent - halt als Ballettmusik. Als historisches Dokument jedoch ist diese Rekonstruktion durchaus ein Juwel für Tanz-Fans.

Nationaltheater, 23., 29. November 2012, 19.30 Uhr, Tel. 2185 1920

Veröffentlicht am: 21.11.2012

Über den Autor

Gabriella Lorenz

Gabriella Lorenz ist seit 2010 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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