Münchens Zerstörung vor 70 Jahren
Auf dem Radl durch die Trümmer - Als der totale Krieg auch die "Heimatfront" erreichte
Vor 70 Jahren, am 15. Februar 1943, – drei Tage vor Verkündung des „totalen Krieges“ - wurden die ersten „Oberschüler“ des Jahrgangs 1927 zum „Kriegshilfeeinsatz“ einberufen. Unser Autor Karl Stankiewitz hat diese Zeit in München miterlebt und erinnert sich im zweiten Teil seiner Rückschau auf dieses schwarze Kapitel deutscher und Münchner Geschichte.
Unter den 15-jähringen „Flakhelfern“ war auch Joseph Alois Ratzinger, der das BMW-Werk in Allach schützen sollte und nebenher das Maxgymnasium besuchen durfte. Dieses vorletzte Aufgebot war offenbar ein Gebot der Stunde, weil die deutsche Flugabwehr bereits stark angeschlagen war.
So konnten die Amerikaner ab 9. März die „Hauptstadt der Bewegung“ auch am helllichten Tag mit Teppichen von Brand- und Sprengbomben belegen. Mit der „Flying Fortress“ (Fliegende Festung) verfügte die US-Airforce über einen Bombertyp, der über 7000 Kilometer weit fliegen konnte, ohne aufzutanken. Die Nazi-Propaganda klang ziemlich lächerlich, wenn sie meldete, dass jetzt „auch Negerstaffeln gegen München eingesetzt werden, die uns wohl amerikanische Kultur bringen müssen“. (Inzwischen hatten wir Schüler amerikanische Kultur bereits in Form von Jazzklängen heimlich aus dem Radio erlauscht).
In einer Serie von sechs schweren Luftangriffen innerhalb von sechs Monaten – die Briten bevorzugten die Nacht – wurde in jenem fünften Kriegsjahr ein großer Teil der Münchner Kulturschätze zerstört: das Nationaltheater, das Deutsche Theater, das Nationalmuseum, das Alte Residenztheater, das Rundfunkhaus, die Staatsgalerie, der Alte Hof, das Leuchtenbergpalais; gegenüber dem Albertinum sahen wir die Staatsbibliothek brennen, eine halbe Million Bücher wurden zu Asche. München leuchtete nicht mehr, München brannte.
Als die Einschläge in unserer schönen Stadt – die Einwohnerzahl war bis Jahresende auf 630 000 geschrumpft - immer dichter kamen, tüftelten meine Klassenfreunde Karl Rübel und Franz Kessner, beide hervorragende Mathematiker, eine Methode aus, wie wir die feindlichen Fliegerangriffe schneller und genauer erfahren konnten. Auf dem Volksempfänger fanden sie einen Sender, der offenbar Lageberichte vom oder für das Luftgaukommando Süd in der Prinzregentenstraße verschlüsselt weitergab. Da hieß es beispielsweise: „Zwohundert vier mot von Anton Dora zwo Kurs Oost.“
Das konnte nur heißen, dass 200 viermotorige Feindflugzeuge von einem bestimmten Punkt aus in Richtung Ost im Anflug waren. Da die Chiffre „Dora Dora vier“ besonders oft auftrat und bereits Motorengeräusch zu hören war, konnten wir annehmen, dass es sich um München handelte. Auf unserem Schulatlas zogen wir nun ein Raster rund um München mit Planquadraten, die durch Buchstaben und Ziffern gekennzeichnet waren. Manchmal erschien München auch als „Maiglöckchen“ in den Radioansagen, während der Fliegeralarm unter dem Stichwort „Brennnessel“ angesagt war. Auf diese Weise konnten wir immerhin erkennen, von wo und wie schnell und in welchen Geschwadergrößen sich der Feind näherte.
Unser Kleinkrieg im verdunkelten Zimmer war nichts weiter als ein Spiel. Vergleichbar vielleicht mit den Computerspielen, mit denen die Kids heute allerlei Alliens aufspüren und diese womöglich killen. Es war nur weniger aggressiv. Das tatsächliche Abschießen von eindringenden Bombern war Sache der nur ein Jahr älteren Kameraden in den Flie-gerabwehr-Batterien rund um München; von Treffern berichteten unsere Flakhelfer-Kameraden aber nichts.
Auch ich blieb nicht vom totalen Krieg verschont. Internatspräfekt Karrer „beförderte“ mich zum Melder beim oberbayerischen Gauleiter Paul Giesler. Sofort nach Entwarnung und manchmal noch vor dem Ende von Fliegerangriffen musste ich, eben mal 14 Jahre alt, in der Stadt nach Großbränden Ausschau halten. Dafür bekam ich einen Soldatenhelm gestellt, denn glühende oder verkohlte Trümmer stürzten noch nach Stunden von getroffenen Häusern. Ein Fahrrad musste ich selbst stellen. Fahrten durch die Hölle waren das. Nie werde ich den Großbrand des Opernhauses vergessen, der die ganze Innenstadt auch noch am folgenden Tag in eine Glutwolke hüllte. Immer werden mir die Menschen im Gedächtnis haften, die vor ihren zerstörten Häusern herumirrten, einige wenigstens mit etwas geretteter Habe. Und eingebrannt sind die eigenen Ängste in verschiedenen, oft unzureichend gesicherten, unter dem Bombenhagel erzitternden Luftschutzkellern. Bei einem dieser Angriffe wurde das Waisenhaus zerstört, wobei die Oberin, elf Ordensschwestern und 31 Kinder getötet wur-den. Den Bomben zum Opfer fielen auch der Verleger Paul Hugendubel, der beliebte Schauspieler Heini Handschuhmacher und mehrere Redakteure („Schriftleiter“) der Münchener Neuesten Nachrichten.
So schnell wie möglich musste ich meine Großbrand-Meldungen in die Befehlsstelle bringen, die sich der Gauleiter im ehemaligen Zentralministerium an der Ludwigstraße (heute das Landwirtschaftsministerium) samt Tiefbunker mit 2,75 Meter dicker Stahlbetondecke, Gasschleusen, Edelholzverkleidung und Notausgang hatte einrichten lassen. Öfter musste ich mich auch in Gieslers zweitem Bunker melden, der tief in einem der früheren Bier-Bunker am Nockherberg ausgebaut war. Dort befand sich zudem ein Luftschutzkeller für die Bevölkerung. Einmal erschienen die feindlichen Schwärme unmittelbar nach Ertönen der Warnsirenen (Voralarm), so dass unter den Menschen, die in den Bunker drängten, eine Panik ausbrach. An die Toten und Verletzten erinnerte ich mich wieder, als im Februar 1973 zwei Mädchen nach einem Popkonzert im Münchner Löwenbräu und im Juli 2010 bei einer Loveparade in Dortmund Duisburg 21 Menschen zu Tode getrampelt und fünfhundert verletzt wurden. Doch es sollte noch viel schlimmer kommen.
Wenig Zeit blieb in diesem bösen Jahr für schulische Pflichten. Wir wechselten die Schulgebäude wie die Hemden. Der ab 1943 forcierte „Bombenterror“, wie die Luftan-griffe offiziell hießen, forderte die in der Stadt verbliebenen Jugendlichen –meine jün-geren Geschwister kamen per „Kinderlandverschickung“ aufs Lansd - zu fast täglichen oder nächtlichen und keinesfalls freiwilligen Einsätzen. Freizeit: Fehlanzeige. Sie brauchten uns, sie missbrauchten uns. Den an der Heimatfront, die im Radio-„Wunschkonzert“ so schmalzig besungen wurde, waren längst die Männer rar geworden - und die Frauen waren überbelastet.
Ab Januar 1944 – die Bevölkerungszahl Münchens war auf 630 000 Einwohner geschrumpft - erreichten auch meinen Jahrgang 1928 die gefürchteten „Heranziehungsbescheide“. Zur Musterung mussten wir in den Hofbräukeller. Stramm und fast nackt standen wir vor Medizinern, unter deren weißen Kitteln schwarze Schaftstiefel zu sehen waren. Die Herren Ärzte waren von der SS und brüllten uns an. Ein piekfein uniformierter Haudegen dieser Herrenmenschen-Armee war zuvor schon in der Klasse erschienen, um uns 15-Jähriger anzuwerben. Ich konnte mich dem Lockruf nur entziehen, indem ich mich freiwillig als Offiziersbewerber zur Kriegsmarine meldete. Und den Rest des Krieges mehr oder weniger abenteuerlich überstand.
Karl Stankiewitz
Dazu ist erscheinen vom Autor "Eine Jugend in München 1939 - 1949" mit einem Geleitwort von Hans-Jochen Vogel (Gerhard Hess Verlag, 17,95 Euro)
Anmerkung der Redaktion: Vielen Dank an Simone für den Hinweis. Die Loveparade 2010 fand natürlich in Duisburg - nicht in Dortmund - statt.