Moses Wolff über den Untergang eines Stadtviertels
Warum im Glockenbach alle Kündigungen auf den nächsten Sommer laufen
Vielleicht gibt es eine Wette zwischen einer Gruppe seelenloser Hauseigentümer und der Stadt München, die vor wenigen Jahren in Champagnerlaune im Ratskeller getätigt wurde. Wettgegenstand: die Verwandlung des beliebtesten Viertels Münchens in ein steriles Nichts, und das Ganze fast so schnell, wie sich Clark Kent in der Telefonzelle umziehen kann. Die Hauseigentümer: „Des back ma in a paar Jahr!“. Die Stadt München: „Mir brauchen schon ein Datum!“. Die Hauseigentümer: „01.09.2013.“. Die Stadt München: „Da wett ma mir dagegen.“ Wetteinsatz: ums Recht. Top, die Wette galt!
Die Lokalbaukommission, die die Stadt am nächsten Morgen leicht verkatert um Hilfe ansuchte, bedauerte, hier behilflich sein zu können, schließlich seien sie unabhängig, parteilos und unbestechlich, des Weiteren gäbe es einige Geldkoffer zu entsorgen und Verträge per Handschlag seien seit Jahren aus der Mode gekommen, da man ja zumeist eine der beiden Hände hinter dem Rücken für mögliche Zuwendungen aufhalten müsse. So dachte sich die Stadt München: Warten wir's mal ab, wir saßen ja schon ganz andere Probleme mühelos aus. Was die Stadt bei dieser Überlegung leider nicht bedacht hat: Seinerzeit war Politik ja auch noch ein Wettbewerb, dessen Spielverlauf sich ändern konnte und dessen Ende variabel war. Heute macht keiner mehr Experimente. So hatte der verbohrte Adenauer seinen Wahlspruch vermutlich nicht gemeint. Nun ja. Wie ging es weiter?
Die Hausbesitzer waren nicht faul und notierten die beliebtesten Lokale, Gebäude und Geschäfte des Viertels rund um den Gärtnerplatz, die man möglichst ohne viel Gerede entsorgen wollte. Mit dem Bürger- und Künstlerprotest gegen die Müllerstraße 6 rechnete damals noch keiner, aber hier ist ja das letzte Wort noch lang nicht gesprochen und wird wohl erst nach den Wahlen fallen (vermutlich werden aber auch hier keine Experimente gemacht).
Als kleines Zuckerl beschloss man den Bau eines riesigen Wohnbunkers aus Glas und Metall in der Müllerstaße, mit dessen Verkauf man alle möglichen dunklen und ebenfalls seelenlosen Gesellschaften zufriedenstellen und auch der Stadt München einen hübschen Prozentsatz zusichern konnte. Da die Bewohner dieses Gebäudes für ihre gewiß großspurigen Kleinwagen freilich eine große Garage samt Ausfahrt benötigen, überlegte man hin- und her und kam auf den Einfall, hier gleich drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und die Garagenausfahrt in die ums Eck liegende Corneliusstraße legen zu können. Damit konnte man in einem Aufwasch neben dem Yoga-Zentrum und dem Café King auch noch das wunderschöne, bei den Anwohnern sehr geschätzte kleine Lottogeschäft vertreiben. Im Handumdrehen entstand dort, wo die freundliche Frau Graef einen jeden Kunden namentlich begrüßte und der Herr Graef viele Geschichten um das Gärtnerplatzviertel erzählen konnte, eine protzige Garagenausfahrt mit Schranken, allerdings erst, als den uneinsichtigen Lottogeschäftsinhabern eine Baustelle, die zufällig exakt deren Schaufenster und Eingangsbereich beinhaltete, vor die Tür gepflanzt wurde. Das war Mobbing vom Feinsten und sorgte beim Hausbesitzerstammtisch für allerlei Kurzweil. Das Musik-Eck war ja schon vor einiger Zeit verschwunden, das konnten sich die Seelenlosen nicht auf die Erfolgsliste schreiben, aber was soll's?
Nun musste man aber endlich den Feier- und Ausgehwütigen an den Kragen. Drum kündigte man dem Isi sein Excess, das allen möglichen Kleinbürgern schon lang ein Dorn im Auge war. Zum Glück fand der Isi eine andere Location und konnte quasi den ganzen Laden umtopfen. Allerdings ein Viertel weiter. Beharrlich bohrten die Hauseigentümer weiter. Wo ist der Münchner verwundbar? Was liebt er am meisten? Die Traditionswirtshäuser in der Innenstadt waren ein zu heißes Eisen, aber da gab es ja noch: stimmt! Das Valentinstüberl am Viktualienmarkt! Zack! Kündigung. Die Fraunhofer Schoppenstube. Vierzig Jahre ist die Gerti drin, sie ist Münchner Geschichte, ein Urgestein, beinahe Weltkulturerbe. Aber halt! Nicht, dass der Ude da was dagegen unternimmt. Ach was, der grinst doch bloß für die Tageszeitungen mal kurz in die Kamera und zieht sich dann wie üblich ins Ungewisse zurück. Für seinen Wahlkampf als Ministerpräsident ist die Schoppenstube eh nicht relevant. Also: Kündigung. Und siehe: Der OB verhielt sich so, wie geplant. Weiter. Holy Home: Kündigung. Tamaras Jeans: Kündigung. Metzgerei Schäfert: Kündigung. Bald ist man fertig. Und zufällig fallen so gut wie alle Kündigungen auf den Sommer 2013.
Aber vermutlich stimmt das mit der Wette gar nicht und es sind nur Zufälle. Zufälle, die ein bestens funktionierendes System rasant zu Fall bringen. Und in ein paar Jahren wird es sehr ruhig werden um den Gärtnerplatz. Dann fahren große Busse mit Touristen vorbei und die Reiseleiter durch das Bordmikro sagen: „Hier gab es mal ein paar Jahre lang etwas Interessantes. Nun gibt es nur noch Häuser.“ Und auf die Frage interessierter Reisender, warum es denn jenes „Interessante“ nicht mehr gebe, antwortet die Reiseleitung dasselbe, was die Betreiber von Tamaras Jeans auf die Frage nach dem Grund ihrer Kündigung nach 33 Jahren als Antwort vom Hausbesitzer bekamen: „Blöd gelaufen.“
Moses Wolff
Über den Autor erfährt man auch etwas in diesem Bericht.