Tschechows Onkel Wanja in den Kammerspielen

Tragisches Kasperltheater im Schaufenster

von Gabriella Lorenz

Stefan Merki, Anne Drexler, Benny Claessens (Foto: Julian Röder)

Wer seinen Tschechow so liebt, wie Hans Lietzau 1987 "Onkel Wanja" an den Kammerspielen inszenierte, den ergreift hier schnell ein Fluchtreflex. Damals breiteten Claus Eberth als Wanja, Cornelia Froboess als Sonja, Helmut Griem als Astrow und Rolf Boysen als Professor ihr Unglück in Enzio Toffoluttis lichten Räumen aus. Jetzt sind die Figuren eingesprerrt in einen engen schwarzen Guckkasten, der an Kasperltheater denken lässt.

Das ist die minimalistische Grundidee der Regisseurin Karin Henkel, die drei Wochen vor der Premiere wegen Grippe ausfiel. Intendant Johan Simons führte die Inszenierung zu Ende. Also schwer zu sagen, was auf wessen Konto geht. Das überaus lachlustige Premierenpublikum jubelte nach zwei Stunden frenetisch.

Ensemble im Guckkasten (Foto: Julian Röder)

Das Konzept der Leitung, zum 100. Jubiläum der Kammerspiele die Stücke legendärer Aufführungen neu zu inszenieren, evoziert natürlich Erinnerungen und Vergleiche. Bisher wirkten die Gegen-Entwürfe eher wie nicht geglückte Demontageversuche. Danach sieht's zunächst auch hier aus: Auf Muriel Gerstners flache Schaufenster-Bühne in 50 Shades of Black quetschen sich die Figuren nebeneinander hinein, oft bleiben sie da als Tableaux stehen. Sie sprechen bedächtig und künstlich ausgestellt - hier hat kein Realismus Platz. Auch kein Requisit, außer Wanjas Revolver. Die heutige Volkskrankheit Depression und die zu Tschechows Zeiten herrschende Lethargie finden Ausdruck in enervierender Langsamkeit. Langeweile ist das einzige Thema der Reichen ohne Lebensaufgabe, und diese Langeweile entwickelt hier auch fast ohne Aktion doch einen spannenden Sog.

Ein psychologiefreies Typenpanoptikum (Foto: Julian Röder)

Das Kasperltheater ist ein tragisches. Benny Claessens, eigentlich zu jung für die Rolle, lässt seine Leibensfülle auf die Rampe plumpsen - ein trauriger Kasper Wanja, der seine Verzweiflung übers vergeudete Leben erstaunlich gefasst äußert, mit großen, naiven Augen. Gretel ist Sonja, die sich immer wieder aufrappelt zum Weitermachen: Anna Drexler, 23-jährige Absolventin der Falckenberg-Schule, spielt das hässliche, bebrillte Mauerblümchen glänzend und anrührend mit lakonischer Komik. Leise schleicht sich das Krokodil an: Die schöne Jelena von Wiebke Puls im roten Tüll-Ballkleid tastet sich an der Wand entlang in die fremde Gesellschaft, deren Männer sich ihr willig zum Fraß anbieten. Worauf sie nur schnippisch und arrogant reagiert.

Ihren alten Gatten, den egomanischen Professor, für den Wanja und Sonja auf dem Landgut schuften, macht Stephan Bissmeier mit Parkinson-Trippelschrittchen und gedrechselten Handbewegungen zur wunderbaren, sehr dezenten Kabarettnummer. Eine Leerstelle bleibt der Astrow von Maximilian Simonischek: Ein permanet zugedröhnter, vor sich hin tänzelnder Freak mit speckigem Haar, der besoffen zum Schlafen buchstäblich aus dem Schaufenster-Rahmen fällt. Was diesen engagierten Arzt und Öko-Visionär - ein Alter Ego Tschechows und die intelligenteste Stückfigur - so anziehend für Frauen macht, versteht man hier beim besten Willen nicht. Das psychologiefreie Typdenpanoptikum ergänzen Hans Kremer als strenge Großmutter mit Dutt und Stefan Merkis diskreter Pausenclown Telegin. Der bestellt russisch Tee und Wodka bei Polina Lapkovskaja (bekannt als Pollyester), die vor dem Guckkasten im Glitzerfummel mit dünnem Stimmchen endlose melancholische Lieder singt - ob russisch oder in ihrer Muttersprache Ukrainisch, mögen Slawisten entscheiden. Und warum auf dem Plakat der Titel in fraktur-ähnlicher, Nazi-Assoziationen weckender Schrift gedruckt ist, wüsste man auch gern.

Kammerspiele, 10., 20., 23., 28. April 2013, 20 Uhr, Tel. 233 966 00

Veröffentlicht am: 07.04.2013

Über den Autor

Gabriella Lorenz

Gabriella Lorenz ist seit 2010 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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