Altsaxophonist Kenny Garrett in der Unterfahrt

Im Zentrum der Jazz-Alchemie

von Michael Wüst

Magische Momente: Kenny Garrett. Foto: Ralf Dombrowski

Letzte Töne. Verbogene, gequetschte. Nur noch Atem im Mundstück. Mit dem Summen der Trommelfelle und dem Sirren geneigter Publikums-Neuronen verlässt ein Stück die Unterfahrt, flüstert noch in den Schächten der Lüftung und dreht sich dann in einer silbrigen Klangsilhouette tief in den Himmel über Haidhausen.  Kurzer Moment einer Stille, immer noch beredt, die geradezu leuchtet: dann bricht der Applaus aus. Ein Gebeugter, in sich Versunkener löst sich aus der Erstarrung: Altsaxophonist Kenny Garrett. Er begeisterte in der Unterfahrt.

Er hatte „Seeds from the Underground“ dabei. Betörend schöne, böse Blumen eines Jazz der 60er Jahre wuchsen daraus.  So modern war einmal Jazz! Und reine Energie.

An diesem Abend in der Unterfahrt beendete die Crew ihren Aufenthalt in Europa, um tags darauf bereits zu einer Tournee nach in die Staaten aufzubrechen. Das allein zeigt, welch ein Highlight da der Unterfahrt wieder einmal gelang.

Bei „Boogety Boogety“, zu Beginn eines 90minütigen Einakter-Sets, meint man noch, sich wohlmeinend und  leicht distanziert zurücklehnen zu können. Ein heiteres, rufartiges Thema lässt das Altsaxophon fast ein wenig spitzig Richtung Sopranlage springen, vor einem dicht gewebten Beat aus Latin-Rhythmen des Drummers McClenty Hunter und des Perkussionisten Rudy Bird an der Perkussion. Bird ist übrigens der einzige, der auch auf der Platte mit dabei ist.

Schnell wird aber bereits in diesem noch einigermaßen verbindlichen Opener klar, wohin die Reise geht. Schon ein Stück weiter, in „J. Mac“ bricht die Saat explosionsartig auf, man hört, auf welchem Wurzelwerk Kenny Garrett gepflanzt ist. Die Rhizome des Untergrunds weisen zu John Coltrane,  Pharao Sanders, Rashaan Roland Kirk, und zu Jacky McLean, dem einzigen Altisten in dieser Reihe der Tenor-Mammutbäume. Wie dieser kämpfte sich auch Kenny Garrett in die Tenormadness der auf und ab rasenden, von Multiphonics durchbrochenen, Halbton-Ganzton-Abgänge nach phrygischen Sonnenaufgängen. Das Ganze ist oft geflochten in chromatischen Terzumkehrungen.

Zentrum der Alchemie, wo solches Werk geschieht, eine Prima Materia des Jazz zu kochen, ist das Verhältnis von Saxophonist und Schlagzeuger. Hier werden die Quantensprünge erkämpft. In Schichten und Schalen wird Energielevel auf Energielevel gehäuft, den Sprung zu provozieren, das Hervortreten von Licht. Drummer McClenty Hunter schürt ohne jede Gnade, fast ohne Anteilnahme. Ein absolut magischer Drummer. Wieder und wieder springt er, verblüffend und plötzlich und: unhörbar. Nur spürbar. Subnukleare Energie ist Jazz. Unterfahrt leuchtete.

Besetzung: Kenny Garrett (as, ss), Vernell Brown (p), Corcoran Holt (b), Rudy Bird (perc), McClenty Hunter (dr)

Aktuelle CD: Seeds from the Underground

 

Veröffentlicht am: 13.04.2013

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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