"Zement" im Residenztheater
Steine, nochmals Steine, und ein unerschütterlicher Glaube
Einen schweren Brocken wälzt Gleb Tschumalow dröhnend über die Bühne, als er nach drei Jahren Bürgerkrieg in sein Dorf zurückkehrt. Da ist 1921 nichts mehr wie vorher, und sein Heldentum kaum noch was wert. Die russische Gesellschaft erfindet sich neu, und wer in dieser Revolution nicht untergehen will, muss mitmachen. Darum geht's in „Zement“, das der Großdichter Heiner Müller 1972 nach einem Roman von Fjodor Gladkow aus dem Jahr 1926 schrieb, und das nach ursprünglichem Verbot in der DDR 1973 am Berliner Ensemble uraufgeführt wurde.
Der Bulgare Dimiter Gotscheff, seit Jahrzehnten leidenschaftlicher Regie-Sachwalter von Heiner Müllers Werk, hat es am Residenztheater inszeniert, wo man der gerade 70 gewordenen Regielegende Gotscheff nach vielen Absagen anderer Häuser Raum dafür gab. Denn heute liefert das Stück nur noch ein allgemein gültiges Historienpanorama über Revolutionsmechanismen und Gesellschaftsutopien. Die Premiere der handwerklich und schauspielerisch brillanten Aufführung dehnte sich wegen einer Technik-Panne von dreieinviertel auf fast vier Stunden, dennoch gab's Riesenbeifall für Ensemble und Regie-Team.
Aus dem riesigen, betongrauen Bühnenkasten von Ezio Toffolutti schieben sich winzig kleine Menschen auf ein leeres Podest. Ein Chor der Ärmsten, der vom Krieg Versehrten und vielleicht schon Toten. Strumpfmasken machen ihre Gesichter zu grotesken Puppenköpfen. Wie Schauspiel-Studenten diese Opfer der Revolution zeigen, ist großartig inszeniert. Davor verzaubert die wunderbare Sängerin Valery Tscheplanowa mit enormer Präsenz ganz allein mit klagenden Vokalisen sowie fetzigen Folk-Songs (Musik: Sandy Lopicic) und verzaubern zwei der von Müller eingestreuten mythologischen Textmonologe.
Kriegsheld Gleb Tschumalow, früher Schlosser in einer nun zerstörten Zementfabrik, erkennt auch seine Frau Dascha nicht wieder. Herb und hart ist sie, führt das Frauenproletariat an, will von Familie nichts wissen, lässt ihre Tochter im Kinderheim verhungern. Die zwei großen Szenen der Wiederbegegnung und der Enthüllungen Daschas über ihre Erlebnisse machen Sebastian Blomberg und Bibiana Beglau zu den stärksten des Abends. Beide umkreisen sich mit atemberaubender Körperspannung und machen sogar das abgestandene Textpathos erträglich.
Doch damit hat Müller das Thema der unmöglich gewordenen Liebe abgehakt, jetzt geht's um den Aufbau der Zementfabrik, die Tschumalow als neuer Revolutionskrieger mit allen Mitteln gegen die Funktionäre durchsetzt, damit das Dorf überleben kann. Immer steiler hebt sich das Bühnen-Podest zur Schräge, auf der lauter Sisyphosse ihre Steine hinaufschleppen und am Ende alle abrutschen.
Der zweite Teil verläppert und verläuft sich endlos zwischen Parteidoktrin und beginnenden Säuberungen, denen die glühende, schießwütige Revolutionärin und der Intellektuelle Iwagin (Lukas Turtur) zum Opfer fallen. Nicht nur bei ihrem Monolog-Duett hätte man mit weniger Ehrfurcht vor Müllers Dichterwort drastisch kürzen können. Zwei berührende Szenen spielt Robert Niemann als Todeskandidat und dekadenter Klassenfeind. Trotz Gotscheffs unerschütterlichem Glauben ist „Zement“ heute nur noch Geschichtsunterricht.
Residenztheater, 12., 26. Mai, 11., 21. 28. Juni, 3. Juli, Tel. 2185 1940