Christian Muthspiel mit Seaven Teares in der Unterfahrt
Nur ein Tribute an John Dowland, aber Klang aus allen Zeitdimensionen
Christian Muthspiel gelingt mit seinem Quartett in der Unterfahrt der Aufriss eines musikalischen Fluchtpunkts Renaissance. Mitreißend und hochkomplex.
Ausgehend von „Lachrimae“, einer Komposition von John Dowland (1563-1626), verdeutlichen vier höchst eigenständige Musiker einen musikalisch-geschichtlichen Prozess als das, was er ist, eine Rekonstruktion aus dem Hörwinkel der Gegenwart in die Vergangenheit.
Aus Dowlands sieben "Lachrimae" wurden bei Muthspiel zehn Stücke von „Tears of Love bis zu „Endless Tears“, die jeweils im Doppelpack gespielt und einander gegenüber oszillierend in den Raum gestellt wurden.
Schon die Instrumentierung versprach einen besonderen Klang. Posaune (Christian Muthspiel), Flügelhorn und Trompete (Mathieu Michel) erzeugten verhangene wehmütige Klänge. Man arbeitete mit sämtlichen verfügbaren Dämpfern und auch mit Synthie-Loops. Und obwohl das Blech der alten Musik dem Apollinischen zugeordnet ist für erhabene Klänge, stolzen Schmerz und die Welt des Heiligen steht, gelangen den beiden durchaus skurrile Ausritte. Zum doppelten Blech gesellte sich kongenial Franck Tortiller am Vibraphon mit wunderbar raumgreifendem, pneumatischem Ton. Und umsichtig und unbeirrbar hielt der große Steve Swallow am Bass den Kurs der Zeitreisenden. Christian Muthspiel sprang darüber gelegentlich noch zu Keyboards und Flügel oder stapelte Loops von Flöten in allen Größen und Luftnummern. Ein Labor der Polyphonie stand bereit.
Renaissance, Urbanität und Polyphonie. Das neue Selbstbewusstsein des Dritten Standes reklamierte zu Zeiten Dowlands seine eigene bürgerliche Musik. Die Polyphonie mag als ein Zeichen urbaner Individualität gesehen werden. Improvisation jedenfalls war schon damals gewollt und üblich. „Christian Muthspiel 4“ veranschaulichte bestens, wie mit solch gegebener Gedankenfreiheit umfassend geforscht werden kann.
„Dancing Tears“ begann fast ein wenig didaktisch mit einer Gegenüberstellung. Posaune und Trompete zitierten jeweils in wenigen Takten das zugrunde liegende festlich heraldische Dowland-Thema, um dann mit einsetzendem Swing von Vibraphon und Bass, klassisch bis eklektisch zu jazzen. „Crocodile Tears“ ließ uns mit Dowland ins Dixieland schauen. Wir flogen über Stomp und Muddy Waters, lauschten dem Weinen der Krokodile, dem Vibrato der Posaune, dem augenzwinkernden Witz des Flügelhorns. Doch immer wieder: die Bläser, gerade noch innig zusammen, entfernten sich wieder voneinander, taumelten mit Stuhl und Instrument einsam durchs All, entfernten sich von einem sämtliche Rückungen der Moderne anrufenden Vibraphon, um anstandslos plötzlich in heiligen Quinten wiedervereint zurück zu sein. Schwerelosigkeit.
Nach den ersten Tränen des Weltraumes, die uns einen Vorgeschmack auf die Weite gegeben hatten, folgten mit „Tears of Love“, „Endless Tears“, „Bitter Tears“ bildstarke, poetische Balladen. Seelenwohnraum. East of the Sun and West of Moon begegneten wir auch Sun Ra und Joe Zawinul. Es geht ihnen gut, sollen wir ausrichten.
Auf einem wunderbaren Flug in die Renaissance hörten wir dank Christian Muthspiel ein erstes Mal auch wunderschöne Themen von Miles Davis, Chet Baker und Johann Pachelbel, die diese aber erst in der Zukunft schreiben dürften. Für die Gegenwart hat dies Christian Muthspiel getan.