Rundgang über die Biennale 2013 in Venedig
Wir lesen auf, wir tauschen, wir staunen - und Außenseiter triumphieren
Serge Spitzer "Ai Weiwei Ghost Gu Coming Down The Mountain" entstanden 2005/2006 (Foto: Axel Schneider)
Deutsch-französisches Zwischenspiel
Abgesehen von dieser symbolischen Entscheidung, die die insgesamt fünf teilnehmenden Künstler sowie die beiden Kuratorinnen (Susanne Gaensheimer für Deutschland, Christine Macel für Frankreich) jeweils vor veränderte, räumliche Herausforderungen stellt, bestehen zwischen den beiden keine inhaltlichen Bezugspunkte: Eine international besetzte Gruppenausstellung (Ai Weiwei, Santu Mofokeng, Romuald Karmarkar, Daynita Singh) unterstreicht Deutschland, eigentlich aber schon wieder Berlin, als Anziehungspunkt einer weltweiten Szene. Politische Akzente gelingen der Kuratorin vor allem mit einer raumgreifenden Installation Ai Weiweis, deren waghalsige Komposition bereits durch den offenen Torbogen am Eingang des Pavillons sichtbar wird: Dreibeinige Hocker, wie sie traditionell von chinesischen Arbeitern und Handwerkern benutzt werden, sind im Zentrum der Rotonde aufgetürmt. Die Wahl des Künstlers und seine zentrale Position innerhalb der kreuzförmigen Raumsituation erweist sich als eine gelungene Antwort auf die Monumentalität der französischen Pavillonarchitektur.
Salas Video konzentriert sich auf den Kontrast zwischen dem dynamischen Spiel der linken Hand im Gegensatz zur schlaff herabhängenden rechten Hand der Pianisten. Zwei Mal hört der Besucher exakt dasselbe Musikstück, interpretiert vom Franzosen Jean-Efflam Bavouzet und vom Kanadier Louis Lortie. Die akustische Differenz, die durch den interpretatorischen Spielraum der beiden weltberühmten Pianisten entsteht, ist Ausgangspunkt der dritten Videoinstallation, in welcher Chloé Thévenin, DJ und Live-Musikerin des Pariser Nachtklubs Re, beide Versionen auf dem Plattenteller zusammenmischt. Gefilmt wurde im deutschen Pavillon. Anri Salas Arbeit ist inhaltlich kohärent und erzeugt jene dramaturgische Spannung, die den Betrachter bis zum Ende der Videos vor der Projektion ausharren lässt – die länger und länger werdende Schlange vor dem deutschen Pavillon (sonst Erkennungsmerkmal der benachbarten Briten, heuer vertreten durch Jeremy Deller), ist offensichtlicher Beweis dafür.
Bleibt man tatsächlich bis zum Ende des dritten Films, so erlebt man einen überraschenden Wendepunkt in Salas Arbeit: Die Kamera schwenkt weg vom konzentrierten Gesicht Chloés und deren Plattentellern, hinauf zum Fenster des deutschen Pavillons, durch das man auf der Fassade gegenüber die Aufschrift „Francia“ hell im Sonnenlicht glänzen sieht. Eine Fußnote zur deutsch-französischen Freundschaft? Oder ein persönlicher Kommentar zur veränderten Raumsituation, die Salas präziser Vermessung zur perfekten Klangformung, die zunächst auf den französischen Pavillon zugeschnitten war, einen Strich durch die Rechnung machte?
Ai Weiweis "Bang" (2010-2013) besteht aus 886 antiken Stühlen (Foto: Roman Mensing, artdoc.de in Zusammenarbeit mit Thorsten Arendt)
Die diesjährigen Jurymitglieder (darunter Bisi Silva, Kuratorin aus Lagos) gelangten zu einer überraschend politischen Entscheidung, mit der sie sich von der apolitischen Grundtendenz der Biennalenausstellung „Il Palazzo Encyclopedico“ (Kurator: Massimiliano Gioni) deutlich distanzierten. Angola, zum ersten Mal in Venedig vertreten, gewann mit seinem Beitrag „Luanda - The Encyclopedic City“ den goldenen Löwen. Prämiert wurde damit eine Ausstellung in einem der zahlreichen Off-Pavillons der Stadt, die ohne die Juryentscheidung vielen Journalisten und Kuratoren wohl entgangen wäre.
Erinnerte die Handlungsaufforderung an den Besucher, ‚aufzulesen‘ und ‚mitzunehmen‘ unwiderruflich an Felix Gonzalez-Torres‘ Arbeiten aus den Neunziger Jahren, so erzeugte der museale Kontext des Palazzo Cini und die repetitive Qualität der Geste (eine Serie von 30 unterschiedlichen Plakaten verteilt auf drei Räume stand zur Auswahl) eine Aktualisierung der künstlerischen Aussage. Im Mittelpunkt stand hier – gleichsam als Metatext – das Nachdenken über den Gestus des Sammelns, Katalogisierens und Bewahrens, der sich über drei unterschiedliche Ebenen spannte: Eine historisch konstituierte (Privat-) Sammlung umschließt eine temporäre, künstlerische Intervention, die wiederum zur Konfektion einer persönlichen Sammlung aus den dargebotenen Elementen seitens des Besuchers anregt.
Sehr beiläufig vermischt Gioni die künstlerische Produktion unterschiedlicher Epochen (19., 20. Jahrhundert) mit zeitgleich auftretenden geistesgeschichtlichen Projekten. Dokumentarisches Material wie etwa Tafel-Diagramme Rudolf Steiners, angefertigt für seine Studenten, steht Seite an Seite mit Arbeiten autodidakter Außenseiter-Künstler. Umgekehrt erinnern von Künstlern angefertigte Serien wie „Plötzlich diese Übersicht“, ein Zyklus von Tonfiguren des Schweizer Duos Fischli und Weiss (gestorben 2012) ihrerseits an die Ästhetik von Art Brut. Was der diesjährige Kurator der Biennale, Gioni, durch die Auswahl vornehmlich serieller Arbeiten ausdrückt, ist nicht so sehr die formale Diversität künstlerischer Wissensproduktion, sondern eine weitgehend unbewusste Verführung zur Geste des Sammelns an sich. Visionslos und an manchen Stellen durchaus pedantisch anmutend, wird diese zum reinen Selbstzweck.
Marlène Rigler
Die Autorin ist Kunsttheoretikerin und Kuratorin, derzeit künstlerische Leiterin des Haus für Gegenwartskunst von Montreuil, "Le 116", das im Oktober 2013 im Süden von Paris eröffnet wird. Von Oktober 2009 bis Dezember 2012 leitete sie in München die Platform3, die unter ihrer Führung ein international ausgerichtetes Pilotprojekt zwischen Kunst und Ausbildung war.
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