Zum Festival Relations in den Kammerspielen (II)

Jetzt reicht die Fluterei bis China, und in München brechen alle Dämme

von Gabriella Lorenz

Aus "Reading". Foto: Liu Yin

Schon kurios, dass zwei Tanzgastspiele beim „Relations“-Festival der Kammerspiele scheinbar direkt die Regenmassen, deren Überschwemmungsfolgen Deutschland immer noch verheeren, auf die Bühne brachten. Warum lieben es Tänzer, durchnässt auf  gefluteten Brettern  umherzurutschen?

Weil es die Körperhaltung völlig verändert? Ohne Wasser von unten oder oben geht's ja auch in Kusejs Residenztheater nicht mehr. Die Kraft des nassen Elements, das  menschlicher Kontrolle gern entfließt, ist ein Faszinosum - und eine Herausforderung für die armen Bühnentechniker.

Bei Meg Stuarts „Blessed“ gibt es einen guten Grund für den Dauerregen. Ihre  Choreografie von 2007 entstand als Reaktion auf die Überflutung von Stuarts Geburtsstadt New Orleans durch den Hurrikan Katrina 2005. Sie schildert ohne große Überhöhung, wie ein Mensch unter der Naturgewalt seine Identität verliert und ums Überleben kämpft. Der Tänzer Francisco Camacho reduziert sich vom schicken Stenz im Palmenparadies auf einen abgesoffenen Penner, der halbnackt unter den Resten der zusammengebrochenen Kartonagen-Deko Obdach sucht. Wie meist dehnt Meg Stuart einen tragenden Gedanken auf die doppelte Länge seiner Tragfähigkeit, weshalb sich nach anderthalb Stunden auch der Zuschauer ziemlich durchweicht fühlt.

Auch in China kämpft man viel mit Starkregen und Überflutungen. Aber dem Regisseur Tian Gebing und seiner Gruppe Paper Tiger Studio aus Peking, mit der Kammerspiele-Intendant Simons eine Kooperation anstrebt, ging es in „Reading“ zunächst eher um die verbale Überflutung durch die Wortgewalt staatlicher Verlautbarungen in Partei-Chinesisch. Euphorische Fortschrittsmeldungen, Aufrufe zu Verbesserungen, Anweisungen zur Schwangerschafts-Planung überrollen den Zuhörer. Die Sprachschichten sollen in Körpersprache übersetzt werden, die man dem Europäer leider nicht mit Übertiteln erklären kann. Das ist ungemein kopflastig und intellektuell, aber Tian Gebing findet für seine fünf Darsteller mit dem überragenden Protagonisten Gong Zhonghui starke, für uns rätselhafte Bilder. Im zunehmenden Regen werden die Aussagen privater, von Shakespeare-Zitaten bis zu Gongs Vita und seiner Wandlung zum Popstar, im physischen Spagat zwischen Stechschritt und Bodenturnen im Wasser. Wäscht dieses jede Tusche-Schrift weg? Um das zu beurteilen, weiß man viel zu wenig über die Subkultur freier Theater in China.

Dem belgischen Regisseur Alain Platel reichen zur Andeutung des Regens leise Geräusche und ein oranges Schutzcape. Was in seiner  Choreografie „Nine Finger“ (sic! ohne Plural-s) alle Dämme bricht, ist die Grausamkeit, zu der Kindersoldaten in Afrika abgerichtet werden. Zwei Ichs erzählen eine Geschichte: Die Tänzerin Fumiyo Ikeda, langjährige Protagonistin von de Keersmaekers Kompanie Rosas, gießt den Schrecken in manchmal seltsam groteske Bewegungen oder tanzt ihn weg, der Schauspieler Stijn Van Opstal schreit ihn in kindischem Englisch wild  heraus. Auf der Bühne fließen weder Blut noch Wasser, aber die Gräuel drängen sich unter die Haut und ins Hirn. Da sind sie nicht leicht wegzuspülen.

Relations, bis 18. 6. 13 in den Kammerspielen, Programm-Info www.muenchner-kammerspiele.de, Tel. 233 966 00

Veröffentlicht am: 18.06.2013

Über den Autor

Gabriella Lorenz

Gabriella Lorenz ist seit 2010 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

Weitere Artikel von Gabriella Lorenz:
Andere Artikel aus der Kategorie