Alain Platels "Tauberbach" in den Kammerspielen
Vom würdevollen, nackten Überleben
Lisi Estaras, Eli Tass, Ross McCormack, Elsie de Brauw, Bérengère Bodin (v.l.n.r.). Foto: Julian Röder
Fliegen summen penetrant über der mit Altkleidern übersäten Müllhalde. Eine Frau redet zornig in einer portugiesisch anklingenden Fantasiesprache, dann auch englisch. Nahrung gebe es hier genug, man könne sogar Spaghetti kochen, antwortet sie der Off-Stimme in ihrem Kopf, die ihr provokante Fragen stellt. Sie ist schizophren und lebt auf einer Abfalldeponie in Rio de Janeiro. Marcos Prado drehte 2004 über sie den Dokumentarfilm „Estamira“: Ausgangspunkt für die Uraufführung „Tauberbach“ in den Kammerspielen.
Der belgische Regisseur und Choreograf Alain Platel lässt fünf Tänzer seiner Compagnie les ballets C. de la B. aus Gent und die Schauspielerin Elsie de Brauw zeigen, wie man sogar auf einer apokalyptischen Müllkippe mit Anstand leben und überleben kann. Frenetischer Beifall für eine außergewöhnliche Aufführung.
Der Titel „Tauberbach“ stammt aus einer anderen Quelle: Der polnische Künstler Artur Zmijewski ließ Musik von Bach von einem Chor tauber Menschen singen. Wie die Gehörlosen Bach empfinden, das klingt verstörend ungewohnt. Die Einspielungen sind allerdings nur ein kleiner Teil des filigranen Bach-Soundtracks von Steven Prengels. Aus dem Kontrast zwischen der Musik und dem fast animalischen Dasein der Figuren behauptet sich deren Würde, die beglaubigt wird durch zarte A-cappella-Chöre der kleinen Slum-Community.
Zu Beginn recken sich aus dem Kleiderhaufen Arme und Beine, langsam krabbeln die Ausgestoßenen der Gesellschaft aus dem Müll hoch. Alle sind deformiert, verrückt, beschädigt: Der phänomenale Romeu Runa hat die Zuckungen und Verzerrungen seines Gummikörpers spastischen Krampfanfällen abgeschaut - und tanzt sie unglaublich elegant. Aber sein Tanz ist ein Schrei: Ecce homo!
Jeder Darsteller entwickelt in diesem handlungslosen, doch spannenden Sozialporträt eine Persönlichkeit: Bérengère Bodin knackt im Wettstreit mit den Fingern, Elsie de Brauw setzt das Öffnen ihrer Druckknöpfe dagegen. Ross McCormack lässt unbekannte Geräusche aus seinem Mund tropfen, die sich zu Worten verdichten. Alle, auch Lisi Estaras und Elie Tass, hungern nach Berührung und Liebe, finden sich entblößt zu Paaren, manchmal tierhaft, aber nie gewaltsam, sondern mit großer, oft erstaunlich grotesker Zärtlichkeit. Liebe, Küsse, Umarmungen, Paarungstänze, Nacktheit - und über allem sirren unheilvoll die Mücken.
Im Zentrum steht Estamira mit ihren Dämonen im Kopf. Eine Frau zwischen Wahn und Klarheit, die selbstbewusst sagt „I do not agree with life“ und gleichzeitig pragmatische Überlebenskunst vermittelt. Sie ist erst die kommentierende Außenseiterin, wird aber nach und nach zum Mitglied der Gruppe. Die hervorragende Elsie de Brauw hechelt und stampft schließlich mit allen im Chor. Die Spannung zwischen Gruppe und Individuum löst sich - auch beim bewegenden Abschied von einem Toten.
Leben, Tod und Sex, mit allen Ängsten - das verdichtet Alain Platel zwischen Sprache, Tanz und Bachs Musik mit seinen exzellenten Darstellern. Ergreifend und berührend. Ein großer Abend.
Kammerspiele, Maximilianstraße 26-28, 80539 München, 21., 22. Februar 2014, 20 Uhr. Telefon 23396600