Stephan Kimmigs "Liliom" an den Kammerspielen

Ich klau dir einen Stern!

von Michael Weiser

Traumpaar im Stadtwald: Anna Drexler und Steven Scharf als Julie und Liliom. Foto: Julian Baumann

Andreas Zavoczki alias Liliom bleibt auch fernab vom Stadtwäldchen ein unverbesserlicher Galgenvogel: Stephan Kimmig treibt an den Münchner Kammerspielen Molnars Vorstadtlegende "Liliom" jegliche Budapester Atmosphäre aus - und beweist in betont nüchterner Umgebung die Zeitlosigkeit dieses Klassikers.

 

Ein Regisseur macht sich über einen Klassiker her und entkernt beim Versuch, Staub von den über hundert Jahre alten Fensterbrettern zu pusten, das ganze Textgebäude. Und den Spielort dazu: Die Bühne der Kammerspiele ist ausgeweidet, nur eine riesige silberne Glitzerkugel hängt vom Schnürboden herab. Bei Stephan Kimmigs Münchner Inszenierung von Ferenc Molnars "Liliom" ist nichts übriggeblieben vom guten alten Kirmesrummel, keine Jahrmarktfarben, nichts, was die Erinnerung an den Geruch von Zuckerwatte auslösen könnte. Nein, der kahle Raum ist eher die Innenwelt der Figuren, vielmehr, ihr Gefängnis. Und die riesige silberne Kugel, die sich mal bedrohlich auf die Akteure senkt, mal wieder hebt, ist Abrissbirne für Träume, ist Discokugel und Stern. Ein leerer Raum, dem die Akteure Leben und Inhalt geben, auch mit ihrem Körperspiel, das eines signalisiert: Hier sieht man eine Welt, die ihre eigenen Gesetze hat. Wir Zuschauer entwickeln nur allmählich einen Sinn dafür.

Sex als Machtmittel: Steven Scharf, Wiebke Puls und Anna Drexler. Foto: Julian Baumann

Etwa am Anfang: Da tanzt Steven Scharf. Er könnte in irgend einem Club sein, man hört im Hintergrund Musik, so leise, dass sie auch eine Sinnestäuschung sein könnte. Erst allmählich wird die Musik lauter, so laut schließlich, dass man sie fast körperlich spürt. Willkommen in der Welt des Herumtreibers Liliom, willkommen in Clubs oder am Fahrgeschäft, wo immer der fesche Kerl auch Frauen umgarnt.

Im Programmheft legt Kimmig seine Inszenierung als Vivisektion der Gesellschaft aus. "Realität wird immer geprägt durch eine Gesellschaft, die die Gesetze macht, die bestimmt, wer draußen bleibt, wer nach oben darf und wer eben nicht. Es ist erschreckend zu beobachten, dass Geburt und Herkunft für die gesellschaftliche Teilhabe eine so entscheidende Rolle spielen." Das hört sich an nach Gesellschaftskritik, wieder mal, allein, das Ganze wird dann doch vielschichtiger: Jeder baut hier selbst an seinem Gefängnis, und wie er das tut, ist absolut sehenswert.

Steven Scharf etwa. Mit den ersten paar Tanzschritten bereits ist er präsent. Da schafft sich jemand Raum für eine Figur, die noch wachsen wird. Wie er in den nächsten zwei Stunden den Liliom spielt, das hat große Klasse: Ein eigenartig zwiespältiger Mensch, ein Frauenausnutzer mit leichtem Hang zur Handgreiflichkeit, ein Taugenichts, aber irgendwie doch kein schlechter Kerl, einerseits ein hoffnungsloser Fall, aber doch auch wieder sympathisch. Ihm zur Seite: Anna Drexler als Julie. Gar nicht auf den Mund gefallen, eine freche Göre eher als ein armes Hascherl, die Kleine hält mit dem Hünen Liliom gut mit - sehr gut sogar: Was die beiden da anstellen, in ihrer ganz eigenen Welt, das fesselt die Zuschauer. Ein Kompliment überhaupt an die Schauspieler: Wiebke Puls ist als Ringelspiel-Betreiberin Frau Muskat eine Ausnützerin ebenso wie eine Ausgenützte, die Karikatur einer Kleinkapitalistin, die Erotik als Herrschaftsinstrument einsetzt. Katja Bürkle wiederum gibt den Ficsur als fiesen, ärger als nur zwielichtigen Ganoventypen - eine Gestalt von beunruhigender Ambivalenz. Marie Jung ist die strahlende Brave an Julies Seite, die im braven, langweiligen Beifeld (Christian Löber) den passenden Mann fürs angepasste Leben findet. Das wollen oder schaffen Julie und Liliom nicht - wer will den beiden da noch helfen?

Kimmigs Inszenierung ist karg und hat doch ihre poetischen, schönen Bilder. Wenn der Polizist Walter Hess den Liliom sekkiert, während sein Kollege (Stefan Merki) wie ein emsiger Trabant auf dem Segway herumkurvt, geht ein Hauch Kafka über die Bühne - so grotesk wirkt das Arrangement. Am Ende schwebt ein Stern über der Bühne, zumindest wollen wir das diesem Liliom nur zu gerne glauben. Viel Beifall für den Regisseur und sein Ensemble.

Veröffentlicht am: 12.03.2014

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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