Ein Rückblick auf "Radikal jung" 2014 im Münchner Volkstheater von Gabriella Lorenz
Immer nur Sex ist auch keine Lösung
Für viele war dies schon das Highlight beim Festival „Radikal jung“. Die französische Truppe „Si vous pouviez lécher mon coeur“ (Wenn Sie mein Herz lecken könnten) wurde beim Theaterfestival in Avignon 2013 mit „Elementarteilchen“ nach Michel Houellebecq als Entdeckung gefeiert. Auch im halbvollen Volkstheater applaudierte das Publikum nach vier Stunden frenetisch. Und verlieh der Aufführung am Ende den mit 2500 Euro dotierten Publikumspreis.
Johan Simons hat Houellebecqs Roman an den Kammerspielen auf fünf Personen komprimiert glänzend gezeigt. Regisseur Julien Gosselin (26) geht mit zehn Darstellern, einem opulent-manipulativen Soundtrack und Video-Einsatz in die Vollen. Er setzt auf Überwältigungspathos, das er allerdings bricht durch reflektierende Interviews, Zwischentitel und Videos. Vom dreiseitigen Laufsteg mit technischen Geräten wechseln die Schauspieler zwischen Erzählen und Spielen auf der leere Bühne. Das zieht schnell in Bann. Gosselin vermittelt (vor allem über die Musik von Guillaume Bachelé) sehr präzise die wechselnde Atmosphäre der 60er bis 90er Jahre, in denen die von der Hippie-Mutter abgeschobenen Halbbrüder Michel und Bruno erfolglos ihre Menschwerdung versuchen. Szenisch karikiert der erste Teil die Esoterik der 70er, aber meist reden die Schauspieler frontal ins Publikum – das allerdings hochpräsent. Held ist nicht der liebesunfähige Genforscher Michel, sondern der verklemmte, sexbesessene Bruno (Joseph Drouet), der so auftritt, wie er gerne wäre: ein Westernhero. Als beide die Liebe ereilt, werden die Damen schnell per Tod aus Houellebecqs Kosmos entsorgt, sonst gäb‘s kein Unhappy End. Michels Erfindung des neuen Menschen, der sich begierdelos weiterklont, zieht sich dann eine lange vierte Stunde mit dem immerselben Musikloop und längst auserzählten theatralen Mitteln.
Eher ein Tiefpunkt war „Hurenkinder Schusterjungen“ vom Nationaltheater Mannheim. Da hat die Jury wohl mehr nach Quotenkriterien als nach Qualität ausgewählt. Erstens fand man es reizvoll, dass die russischstämmige Theaterautorin Marianna Salzmann (28) so mit zwei Texten vertreten war, zweitens passten sie und der Regisseur Tarik Goetze (26) perfekt ins Altersraster und in den Quod-erat-demonstrandum-Schwerpunkt, dass Migrations-Hintergründler zunehmend im Theater integriert sind. Drittens geht es um die Wirkung des politischen Außen ins private Innen. Denn das junge Theater wird wieder politischer. Das zeigte die zehnte Ausgabe von „Radikal jung“. Was aber keine Einladung der halbgaren Aufführung eines schlechten Textes entschuldigt.
Auch wenn bei Marianna Salzmann die Gaskartusche, die eine Freundin bei einer Demo getötet hat, ständig im Kopf des Mädchens Ali explodiert, kriegt das hyperaktive Zugbegleiter-Girlie die Proteste draußen (Gezi-Park in Istanbul oder Stuttgart 21, egal) im Kopf nicht zusammen mit ihrer WG. Da vögelt sie unterschiedslos mit dem schmierigen Vermieter und dem naiven Fotografen, der sich als Kellerassel verkriecht. Dauersex provoziert Gewalt oder umgekehrt, spielt keine Rolle. Salzmann schreibt keine Figuren und kein Stück, sondern schraffiert Skizzen. Ein peinlich ausgestopfter Penis, der am Ende abgebissen wird (Regie-Zutat) erleuchtet auch nichts.
Einen verwirrenden Schlusspunkt setzte das pseudo-römisch-philosophische Spektakel „2. Sinfonie – Rausch“, das Ersan Mondtag in einer freien Werkstatt am Schauspiel Frankfurt inszenierte. Es war auf jeden Fall radikal, was eine Einladung rechtfertigt. Aber gewiss nicht die Geburt des neuen Theaters. Sondern ein kopflastiges Konstrukt nach Texten von Nietzsche (wenig) und Robert Pfaller (viel), schwülstig illustriert von einem Chor vier weißgeschminkter lebender Nackstatuen, die sich schon auch mal am Gemächt kratzen. Irgendwann verröchelt einer nach Ansage im Bühnennebel an Gift – alles ohne Belang.
Aber weil dieses Festival sonst engagiert - gerade mit einer schwierigen Produktion aus Israel, der die Masterclass von Regiestudenten ihren Bierkasten-Preis gab - politisches Theater geholt hat, nimmt man das halt nur gelangweilt zur Kenntnis. Und verzeiht sogar die läppischen Game-Spielchen, die uns das banale Mitmach-Theater von morgen eröffnen.