"Tesseract" und "Animals as Leaders" im Backstage
Wunderkinder und Sparzwang
Das war früher so eine Sache mit den Wunderkindern: Den Mozart Wolfgang konnte man rumschippern und exklusiv vermarkten; eine europäische Berühmtheit, die sich noch keinem globalen Konkurrenzdruck stellen musste. Heute schnurren die Distanzen internetbedingt nur auf ein paar Clicks zusammen, und auf YouTube häufen sich die Beiträge im steten Wettstreit darum, wer auf der Gitarre die schnellsten Skalen frickelt.
Zwischen der zuhause gepaukten Tonleiter und dem auch beruflich vorgetragenen Hand- und Kunstwerk liegen dann doch wiederum Welten. Animals As Leaders, das US-amerikanische Trio um den 30-jährigen Gitarristen Tosin Abasi, steht für eine neue Generation hochbegabter, fleißiger und bodenständiger Instrumentalisten: Leidenschaft, Musikstudium, Vollzeitberuf – und für Rockstar-Allüren hat's keinen Raum. Langmähnige Yngwie Malmsteens haben ausgedient.
Am vergleichsweise gemischten Publikum im Münchner Backstage ließ sich das Szene-übergreifende Renommée von Animals As Leaders ablesen, das man sich binnen weniger Jahre erspielt hatte: Das Debüt von 2009 fand auch in der Nicht-Metal-Fachpresse enormen Anklang und versöhnte auch gestandene Jazzer und kurzhaarige Musiktheoretiker mit Double-Bass-Salven und brachialen Staccati aus Achtsaiter-Gitarren, die nur einen Ganzton über dem gewohnten tiefen E eines Basses liegen und diesen nahezu verzichtbar machen und in den tieffrequenten Bereich der Backing-Tracks verbannen.
Tosin Abasis Posterboy- und Magazincover-Qualitäten (tiefenentspannter Cousin von Bruno Mars, stets elegant gekleidet, gerne mal mit Leinenanzug und Hut) taten ihr Übriges, um zum Presseliebling zu werden. Ein wenig vertrackter Jazz-Metal gehört seitdem zum guten Ton bei Musik-Bescheidwissern. Diese, gemeinsam mit der M-Polizei und bloßen M-Liebhabern, wurden mit "Tooth and Claw" vom neuen Album "Joy of Motion" wachgerüttelt, mit dem älteren "Tempting Time" in Schwingungen versetzt und mit dem kontrastreichen "Wave of Babies" mürbe gekloppt, bevor der allzeit bescheidene Abasi immerhin etwas sagte: Ein paar wenige Worte des Dankeschöns und Hellos. Keine Zeit und kein Bedarf für große Reden, es gilt, einen straffen Zeitplan einzuhalten und das polymetrikhungrige Publikum zu füttern. Wenn die Leute Entertainment wollen, sollen sie auf die Griffbretter von Abasi und das von dem noch zurückhaltenderen Javier Reyes schauen. Oder auf die Felle und Bleche Matt Garstkas, dem das Schlagzeugspiel mehr Zwanghaftigkeit denn Bewegungsfreudenquell zu sein scheint. Kaum ein Takt, der nicht nach zwei straighten Beckenschlägen, die Orientierung in der Tonexplosion versprechen, bis zur Machbarkeitsgrenze zersynkopiert wird. Erst in der zweiten Hälfte des Sets werden Garstka und sein Spiel straighter und weniger "showing off".
Bei "Physical Education" zeigt sich, wie sehr Animals As Leaders sich mittlerweile stilistisch freigeschwommen haben: Dramatische Geflechte aus kadenzhungrigen Akkorden und Layern werden kontrastiert vom Hauptriff, das nachgerade arglos fröhlich ist und die Nintendo-Spiele-Kindheit in Erinnerung ruft.
Erwartbar, dass das Set mit dem weithin bekannten "CAFO" beendet wird, das trotz des immensen Spektrums an Fingertechniken, Slappings, Tappings und Shreddens über die gesamte Reichweite der Achtsaitigen so herrlich überschaubar und eingängig ist. Thank You, Good Night, Zugaben gehören ebenfalls nicht mehr zum Konzept solch einer Darbietung, zumindest nicht zur Sequenzer-Playlist auf den Notebooks, ohne deren massive Nutzung immer weniger solcher Bands agieren.
Auch von einer Art Wunderkinder sind die Briten von Tesseract, die lange als offenkundiger Geheimtipp gehandelt wurden, der mit einer stetigen Folge an im Internet veröffentlichten Soundclips für Furore und Mundpropaganda sorgte. Noch lange bevor ein handelsüblicher und "greifbarer" Beweis in Form einer Langspielplatte veröffentlicht war, wurden Tesseract zur Speerspitze des (man muss ja alles zügig und zeitnah schubladisieren: Djent-Metals gezählt. Bandleader Acle Kahney hat frühzeitig zwei Dinge perfektioniert: Das typische handballenstopp-lastige Riffing, das den Fokus von der Melodiosität zum Rhythmik hin verschiebt – sowie das "Schlafzimmer-Recording"-Prinzip. Kahney und Konsorten weltweit verzichten zunehmend und ausdrücklich auf schwergewichtige Verstärker, bevorzugen digitales Amp Modelling und reizen die gewachsene Rechenleistung mittlerweile erschwinglicher Macbooks aus.
Der Vorteil: Geduldig ausgetüftelte Sounds lassen sich verlustfrei live reproduzieren, ohne großen Aufwand, da die bearbeiteten Signale direkt in die Tonanlage des Auftrittsortes gehen. "Schlanke Bühnen", fast ganz ohne Lautsprecherboxen und Mikrophonabnahme; auch auf Monitorboxen wollen sich viele Bands nicht mehr verlassen müssen und investieren lieber in eigene In-Ear-Systeme. Mitsamt Yngwie Malmsteen wurden auch Lautsprecherwände (Wer bezahlt die Roadies?) wegökonomisiert. Der Rock'n'Roll passt ins Handgepäck. Und wird über den Clicktrack in den Kopfhörern der Musiker auf Spur gebracht.
Tesseract spielen sich dann auch routiniert und mit gediegenem Sound durchs Set, Sänger Daniel Tompkins ist nach einmal Album-Aussetzen wieder dabei und fügt sich dem Diktat des modifizierten Bandsounds: harsche Vocals gibt's nur noch ganz spärlich, bei alten Stücken. Ein Blickfang ist der hagere und befremdlich schulterlanghaarige Amos Williams am Bass, barfuß und im Trägershirt, sanft exaltiert, beim Bearbeiten leerer Saiten auch mal gerne den linken Arm hängen lassend und Flamingo-like nur auf einem Bein stehend. Sonst begnügt sich die Band mit moderatem Haareschütteln.
Bei Tesseract wird PR-Berater-konform kommuniziert: Hello, Itsgoodtobeback (in Munich), man hat auch eine etwas aufsehenerregende Meldung im Gepäck – weil unlängst einen Plattenvertrag über weitere drei Alben abgeschlossen – und lacht bei Tompkins' Aussage ein wenig, wenn man den Sängerverschleiß der Briten kennt. Brav wird noch Applaus für den ausgewechselten Interimssänger eingefordert, der war ja schließlich ein großer Künstler und 'n toller Typ, ganz klar. Man hat sich halt wohl "consciously uncoupled", so wie weiland Gwyneth Paltrow und der Coldplay-Bursche.
Auch hier: keine Zugabe. Der Sequenzer gibt ab 22:50 Uhr nichts mehr her. Man hat auch genug Handwerk gehört jetzt, und der Abend wurde ja bereits um halb Acht mit Navene Koperweis eröffnet, und dessen kurzem Schlagzeug-Aufwärm-Programm inklusive – klaro – Bässen und Klangspielereien vom Band. Modernes Musikertum muss sparen, da ist es nur recht und billig, dass als Support für diese Tour der frühere Animals As Leaders-Drummer als One-Man-Band angeheuert wurde. Wunderkinder gibt's heutzutage im Sparpaket.
Marko Pfingsttag