Premiere der Opernfestspiele mit "Pelleas und Melisande"
Vor lauter Symbolen den Sinn nicht mehr gesehen
Immer, wenn sich eine Neuinszenierung von Debussys einziger Oper „Pelléas et Mélisande“ ankündigt, kommen die Intellektuellen aus ihren Löchern. So kann man im Programmheft etwas über „das Phänomen der transgenerationalen Übertragung“ lernen, das sich in der Trauma-Forschung und vor allem in der Geschichte des Holocaust findet. In einem vor der Premiere im Prinzregententheater veröffentlichten Zeitungsinterview wird die junge Regisseurin Christiane Pohle keck gefragt, wie sie denn bitte schön „das performative Aufbrechen einer Entität von Darsteller und Figur“ mit Opernsängern umzusetzen gedenke. Nun gut. Ihre Lösungsansätze waren so überzeugend, dass die Eröffnungspremiere der Münchner Opernfestspiele so einhellig abgelehnt und ausgebuht wurde wie selten eine Aufführung zuvor.
Es tut gut, sich die zugrunde liegende Geschichte von Maurice Maeterlinck in Erinnerung zu rufen: Prinz Golaud trifft in einem Wald auf die geheimnisvolle Mélisande. Er bringt sie auf das Schloss seines Großvaters Arkel und heiratet sie. Doch Mélisande verliebt sich in Golauds Halbbruder Pelléas. Am Ende tötet der eifersüchtige Gatte den Nebenbuhler, worauf Mélisande an Herzeleid stirbt.
Claude Debussy wollte mit seiner einzigen Oper Wagners „Tristan“ Paroli bieten. Die Musik erklärt, was die Sänger weitgehend neutral rezitieren. Dirigent Constantinos Carydis und das zuverlässige Bayerische Staatsorchester bemühen sich, jene Emotionen und „Geheimnisse der Seele“ hörbar zu machen, die von der Inszenierung verweigert werden: „Je ne suis pas heureuse“, ich bin nicht glücklich, singt Mélisande - und lächelt dabei.
Zentnerschwer lastet die minimalistische Deutung eines ohnehin stark symbolhaften Textes auf der Inszenierung. Eine nüchterne Hotellobby dient als Einheitsbühnenbild (Maria-Alice Bahra). Statisten bevölkern die Empfangstheke. Vor allem aber: Es gibt in dieser Lobby eine Menge Stühle. Man kann sie von links nach rechts tragen, sie aufeinander stapeln und auf ihnen nach Belieben Platz nehmen. Am Ende sitzen alle Akteure, aufgereiht wie in einer Selbsthilfegruppe, nebeneinander an der Rampe.
Weil Christiane Pohle glaubt, das rätselhafte Verhalten der handelnden Personen am besten durch ihre Distanz zueinander aufzeigen zu müssen, hat das Liebespaar mit der ersten körperlichen Berührung bis zum Ende des vierten Aktes zu warten. Die Folge: Sofort erscheint Golaud und tötet Pelléas. Dekadenz und Absurdität des Textes bleiben unangetastet und weiterhin ein Buch mit sieben Siegeln.
Das Anliegen des Komponisten, die Musik dort beginnen zu lassen, wo die Ausdrucksfähigkeit der Sprache aufhört, wird vom Dirigenten Constantinos Carydis und den Sängern – voran Alastair Miles (Arkel), Okka von der Damerau (Geneviève), Elliot Madore (Pelléas), Markus Eiche (Golaud) und Elena Tsallagova (Mélisande) – trotz kleinerer stilistischer Fragwürdigkeiten überaus ernst genommen. Im Ensemble gibt es keinen Ausfall, im Gegenteil: Alle Rollen sind weitgehend optimal besetzt. Zu bedauern bleibt, dass die symbolbefrachtete Regie keinerlei Anlass sieht, die reichlich kolportagehafte Love-Story wenigstens in Ansätzen glaubhaft nachzuzeichnen. Die musikalische Seite hätte eine angemessene Inszenierung verdient gehabt. So aber macht sich Langeweile breit.