Milo Rau und The Vacuum Cleaner bei Spielart
Die Väter geben keine Antworten mehr
Jeder Tag eine Last: The Vacuum Cleaner - allerdings nicht in einem Münchner Bett. Foto: Sophie Nathan
Wohnzimmergespräche und Schlafzimmermonolog bei Spielart: Milo Rau erzählt in „Civil Wars“ von Bürger- und bürgerlichen Kriegen, The Vacuum Cleaner vom Krieg mit sich selbst. Und dem System.
Man findet sich ein an einem unwahrscheinlichen Ort, für Theater ebenso wie für eine andere Form des Behaustseins. In einer B & B-Wohnung in einem schäbigen Block, immerhin, die Wohnung selbst ist sehr gepflegt – und sehr unpersönlich. Wesentlich wärmer ist der Empfang in der Küche, mit Karottenkuchen und Tee. Auch gleich ein Zimmer Tür weiter werden die rund 15 Besucher des Abends aufgefordert, es sich gemütlich zu machen, auf dem Boden sitzend, um eine Matratze herum, über die eine Decke gebreitet ist.
Erst nach einigen Sekunden bemerkt man, dass ein Mensch unter dieser Decke ruht. Für die nächsten Minuten beobachtet man ihm beim Erwachen, vielmehr: Man wird Zeuge, wie da einer versucht, sich der Herausforderung des Erwachens zu stellen. Eine Sisyphus-Arbeit, so viel wird schnell klar. The Vacuum Cleaner oder - so der aktenkundige Name - James Readbitter ist nicht fürs Leben gemacht oder das Leben nicht für ihn, eine Borderline-Störung diagnostiziert die Psychatrie, eine Gefahr für die Gesellschaft sehen in ihm die Sicherheitsbehörden. Aus der Mühle kommt er nicht raus. Aber er arbeitet daran.
Zwölf Menschen nehmen sich jeden Tag in Großbritannien das Leben, ein Irrwitz, der nicht sein darf: Das ist seine Botschaft. Und der Vacuum Cleaner vermittelt sie mit einer Lebensgeschichte, bei der man nicht zu sicher sein darf: Was ist autiobiographisch, was Fiktion?
Sein Körper weist Male auf. An den Unterarmen Narben von Schnitten, am Rücken ergeben die Narben Buchstaben und Wörter. Diese Gesellschaft ist im Arsch, ergeben sie sinngemäß. Und der Vacuum Cleaner erzählt von Aufenthalten in der Klinik, von Guerilla-Aktionen für den Umweltschutz - als aus dem Patienten der Aktivist wurde -, von den Folgen der vielen, allzu vielen Medikamente. Schließlich von dem Einfall, der Befreiuung bringen können: Der Aktivist und Künstler Vacuum Cleaner macht seine Wohnung zum Narrenschiff. Und Künstler oder wer auch immer interessiert ist, können ihn besuchen, zusammen mit ihm arbeiten, es ist Therapie und Schaffensprozess in einem.
Wir sind an diesem Abend die weitere Besatzung des Narrenschiffs. Am Ende huscht ganz kurz ein Lächeln über das Gesicht des Performers. Und es sieht ganz kurz so aus, als könne man sich Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen. Also, wenigstens irgendwann nicht mehr ganz so unglücklich.
Sehr intim, ziemlich befremdend, manchmal wirklich berührend.
Suchen in Zeiten der Krisen
Ein erstaunlicher Theaterabend ist Milo Raus "Civil Wars" im Marstall. Erstaunlich schon deswegen, weil man ein Publikum selten so ruhig, so konzentriert erlebt. Einmal verlassen zwei Leute den Raum, einmal fällt eine Flasche um. Das war's an Störungen, kein Husten, kein Räuspern. Stille.
Auf der Drehbühne - zuerst so etwas wie eine Loge, wie man sie so ähnlich aus dem Cuvilliés-Theater in Erinnerung haben könnte, auf der Rückseite ein Wohnzimmer. Darin agieren vier hochkonzentrierte, hervorragende Schauspieler: Karim Bel Kacem, Sara De Bosschere, Sebastien Foucault und Johann Leysen. Genauer gesagt agieren sie nicht, sie reden. So, als sei gerade kein Publikum anwesend, wie hinter einer vierten Wand geborgen, erzählen sie aus ihrem Leben. Vor allem aber von dem, was die Brücke in die Vergangenheit oder in die Zukunft schlagen könnte. Doch diese Brücken wird es nicht geben. Die Väter haben versagt oder sind zerbrochen. Die Gesichter der Berichterstatter, von der Kamera eingefangen, sieht man groß auf der Leinwand über dem Wohnzimmer: Ergebnis einer Dokumentation.
Den Anfang macht Sebastien Foucault. Er berichtet vom Ergebnis einer langwierigen Recherche zu Jugendlichen, die aus Flandern in einen Bürgerkrieg gezogen sind, der sie nichts angeht. Nach Syrien, in die Scharen des IS. Wie Joris, dessen Vater allerdings nicht ruht, bis er seinen Sohn heimgeholt hat aus dem Kalifat. Foucaults Schilderung des Wohnzimmers, in dem diese Interviews stattgefunden haben, geben der Bühne Gestalt: altmodisches Wohnzimmer, mit zentraler Couch, an der Wand gerahmte Bilder, die Erinnerung der Anderen.
Und schließlich die Apokalypse
Vier Zeitzeugen unter sich (bei Milo Raus Civil Wars) - und Sara De Bosschere ist gerade im Bilde. Foto: Marc Stephan
Milo Rau hat die Erzählungen unter Überschriften gestellt, die zunächst einen Verdacht erwecken: dass da quasi im Vorübergehen die großen Problemfelder Europas und der Welt quasi anekdotisch gestreift werden. Migration, Klimakatastrophen, schließlich die "Apokalypse".
Der Verdacht verflüchtigt sich mehr und mehr, weil in den einzelnen Erzählungen etwas Ungreifbares zumindest zu ahnen ist. Man lauscht atemlos. Da erzählt ein Sohn marokkanischer Eltern, Karim Bel Kacem, von seinem Hass auf den Vater, der die Mutter windelweich prügelt. Und von seinem Verständnis für den Hass der Mörder in Syrien, die zuvor selbst Zeugen von Morden geworden sind. Das taugt nicht zur Rechtfertigung für irgendetwas, man möchte die hirnlose Eskalation in Bausch in Bogen verdammen. Nur gehen einem angesichts der Gewalt der heraufbeschworenen Bilder im Moment die Argumente aus. Die Väter - sie geben auch keine Antworten mehr.
Die Geister poltern im gemeinsamen Haus
Foucault wiederum schildert, wie der entfesselte Markt seines Vaters Lebenswerk ruiniert. Der Bericht hallt länger nach als eine engagierte Anklagerede. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass ausgerechnet dieser Foucault einen entscheidenden Satz sagt: "Ich werde in einer Welt aufgewachsen sein, in ihr gelebt haben und in ihr sterben, ohne an einer einzigen kollektiven Aktion teilgenommen zu haben, um sie zu verbessern."
Sara De Bosschere ist auch im Doku-Drama Schauspielerin, sie spricht, ziemlich am Ende, wie in einem Vorsprechen Sätze aus Tschechows "Kirschgarten", die Schauspielkollege Johan Leysen routiniert und beinahe gelangweilt als Anja beantwortet. Eine Fingerübung, könnte man meinen, doch beiden fassen damit zusammen, was Europa gerade so ungefähr schwant. Dass man sein Tafelsilber verschleudert und nicht mal weiß, warum. Und dass nichts mehr sicher ist, nicht einmal das Gewesene. "Wir haben noch nichts", sagt Sara. "Rein gar nichts, nicht einmal ein deutliches Bild unserer Vergangenheit."
Keine Entwicklung, kein echter Anfang, schon gar kein Schluss. Alles bleibt in diesem Stück im Individuellen, Unzusammenhängenden. Die Geschichten könnten sich so oder so ähnlich vielfach zugetragen haben, in dieser Zeit oder einer längst vergangenen. Um ein Bild der Krise zu zeichnen, hätte Rau vermutlich deutlichere Erzählungen finden können. Wirklich beispielhaft, repräsentativ und alles erklärend, ist keine der Episoden von "Civil Wars".
Und das macht den Abend stark. Milo Rau ist eine Momentaufnahme gelungen, weil er eben nicht auf Thesen herumpaukt. Man denkt lange nach über diesen Abend und kann doch nicht sagen, ab welchem Zeitpunkt einen das große Unwohlsein beschlichen hat. In seiner großartigen Momentaufnahme hat Rau die Befindlichkeiten einer Welt im Umbruch eingefangen. Im gemeinsamen Haus poltern Geister, wie Foucaults schlafloser Vater in der Nacht: unbeherrschbar, undurchschaubar und sehr beunruhigend.