Nochmal Milo Rau sowie Anna Konjetzky bei Spielart

Partys in Zeiten des Krieges

von Michael Weiser

Anschauungsunterricht: Vedrana Seksan zeigt ein Geschoss, so ähnlich wie das, das in ihrer Wohnung landete. Foto:Thomdas Dashuber

Milo Rau führt bei Spielart seine Europa-Schau im Marstall mit "Dark Ages" fort: Die selbe Machart wie bei "Civil Wars". Ebenso fesselnd. Der Abend fand seine Fortsetzung in der Muffathalle, beim Flanieren in Anna Konjetzkys Sperrholz-Parcours: ein unterhaltsamer "Testlauf" zu später Stunde.

Valerie Tscheplanowa erinnert sich, wie sie auf dem Weg zum Vorsprechen in der Kantine an einem grimmig dreinblickenden Menschen vorbeikam. „Kennen Sie mich“, fragte der, Tscheplanowa verneinte, und der Mann sagte verständnislos: „Aber ich bin weltberühmt.“ Tscheplanowa erzählt diese Begegnung mit dem tatsächlich sehr berühmten Dimiter Gotscheff in Milo Raus „Dark Ages“, das genau wie „Civil Wars“ eine Collage biografischer Nahaufnahmen ist.

Tscheplanowas Bericht handelt von einer Ankunft, von ihrem Ankommen in der Welt des Theaters. Und ist damit fast eine Ausnahme an diesem Abend, an dem fünf Schauspieler von sehr intimen Erfahrungen in einem Europa erzählen, das man so gar nicht mehr vor Augen hat. Ein Europa der Kriege, in dem wenige Meter und wenige Sekunden den Unterschied zwischen Krieg und Frieden, zwischen Sieg und Niederlage, Leben und Tod machen können. Auch in Deutschland, was man heutzutage fast vergisst. Manfred Zapatka erzählt sachlich von seinen Erfahrungen als Kriegskind, etwa, als seine Mutter einen Luftalarm verpasst und sie und er nicht mehr in den Bunker kommen. Im Treppenschacht nur unzureichend geborgen, überleben die beiden den Luftangriff knapp. Zweimal wird die Familie ausgebombt. Eine Erfahrung von Verlust, die möglicherweise die Ursache für Verhärtungen, für abstoßende Erbstreitigkeiten Jahrzehnte später ist. Möglicherweise, denn die Erzählungen werden nicht weiter kommentiert, sie stehen für sich, rätselhaft, individuell, und doch geheimnisvoll über sich hinausweisend.

Manfred Zapatka, Valery Tscheplanowa, Sanja Mitrović, oben Sudbin Musić (Projektion). Foto: Thomas Dashuber

Es geht auch darum: Was ist Heimat? Kann sie fremd werden? Wie dick ist die Schicht über dem Chaos? Die ersten Sätze in „Dark Ages“ gehören Sudbin Musić, ein bosnischer Moslem, „aber ich schaue aus wie ein Arier“. Er arbeitet für eine NGO, die sich die Aufklärung von Massakern während des Krieges in Jugoslawien auf die Fahnen geschrieben hat. Musić erzählt ganz ruhig eine Geschichte, die einem den Atem raubt. Wie Tschetniks die Einwohner seines Dorfes massakrierten. Auch seinen Vater, dessen Leiche sie in einen Brunnen warfen. Jahre später war Musić dabei, als die Knochen seines Vaters geborgen wurden. Seine Hände formen eine Kugel, und es ist, als fixierte Musić die leeren Augenhöhlen des Schädels mit seinem Blick. Ein Szene, die auf „Hamlet“ anspielt, der fortan einen Subtext in „Dark Ages“ abgibt.

Sein oder Nichtsein im belagerten Sarajewo, im von der Nato bombardierten Belgrad – davon erzählen Vedrana Seksan und Sanja Mitrović. Mitrović erzählt von den Parties in der bombardierten Stadt und zieht einen Schluss, der genau so befremdet wie anfangs Musićs Bericht: Es sei die beste Zeit gewesen.

Milo Rau hat erneut seine Produktion unter Titel gestellt, die eher verrätseln als aufklären. Nur teilweise decken sie sich mit den Erzählungen. Etwa wenn Tscheplanowa im Kapitel „Die Schutzflehenden“ von ihrer Kindheit in Kasan erzählt und von ihrer Ankunft in Deutschland. Dazu erklingt leise, melancholisch Musik der Kultband Laibach. Die Band spielt auch eine Rolle in dem Stück. Vedrana Sekan wird nach einem Laibach-Konzert von einer TV-Reporterin gefragt, was sie fühle. Sie antwortet mit ihren Eindrücken vom Konzert, zunächst nicht ahnend, dass die Reporterin etwas ganz anderes wissen will: Der Waffenstillstand ist da.

Wie bei „Civil Wars“ bannen die Schauspieler, die Intimität des Bühnenraums (Anton Lukas), die in Großaufnahme gezeigten Gesichter der Schauspieler. Ganz nahe meinen wir ihnen da zu kommen. Ein Trugschluss, natürlich, ähnlich wie die Annahme, dass man eine einzige Geschichte Europas erzählen könne, ein Bild der Welt malen könnte. Ein fesselnder, ein starker Abend. Dass bei Spielart die Untertitel streikten und das Kammerspiel unterbrochen werden musste, riss die Zuschauer nur kurz aus ihrer Konzentration.

 

Die Stadt, der Raum und wir: Eine Selbstverstädlichkeit, ganz neu verhandelt bei Anna Konjetzkys "Testlauf"

Die Stadt, der Raum, die Unterhaltung

Zu später Stunde in der Muffathalle: Auf einem mit Seilen abgetrennten Parcours mit Podesten und Rampen verteilen sich rund 50 Zuschauer und fünf Tänzer, Sahra Huby, Quindell Orton, Sara Sampelayo, Damiaan Veens und Jorge Rodolfo De Hoyos. Zwei der Podeste sind zu Beginn schon besetzt und bleiben es, auf ihnen haben die Musiker Brendan Dougherty und Miguel Casaponsa Platz genommen. Ein „Testlauf“ ist angesagt, mit „Chefingenieurin“ Anna Konjetzky, die ergründen möchte, wie Kommunikation den Raum bedingt und umgekehrt. Die fünf Tänzer bilden eine Reihe, die sich langsam dreht, und machen Gesten, die man als einladend interpretieren darf, sie bewegen sich, als wollten sie die Zuschauer ins Geschehen ziehen.

 

Was alsbald geschieht: Wer sich's eben noch auf einer Rampe bequem gemacht hatte, befindet sich bald in Gewühl. Die Tänzer (oder Führer durch den imaginären urbanen Raum) lotsen den Strom mal hier hin, mal dorthin, während sich durch das Umklappen von Bretten und Rampen an Scharnieren der Parcours immer mal wieder verändert. Leblose Räume entstehen, gleich daneben Zonen, in denen die Menschen ihrerseits zu tanzen beginnen. Verbindlich ist nichts, man kann sich irgendwo hinsetzen und zuschauen. Man kann aber auch flanieren und sich unterhalten. Dazwischen immer wieder mal die Tänzer: Kontakt-Impro als Symbol für das soziale Interagieren, das Zerren und Folgen, das streiten und einander bestärken.

Die Rampe, auf der ich zuerst gesessen hatte, entpuppt sich schließlich als Theke: Es werden Wasser und Wein gereicht, hier klingt der Abend aus. Unterhaltsam. Ein „Testlauf“, den jeder der Zuschauer anders erlebt haben wird. Und unterschiedlich unterhaltsam. Es ging schließlich um Kommunikation. Wer gar nicht mitmachte – blieb draußen. Auch darin sind die Ähnlichkeiten zum realen urbanen Raum alles andere als zufällig.

Veröffentlicht am: 05.11.2015

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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