"Alice im Wunderland" eröffnet die Ballettfestwoche
Psychedelic-Trip der Superlative
Wunder über Wunder zieht auf der Bühne des Nationaltheaters vorüber. Fantastische Tierwesen leuchten in Pink und Violett, exzentrische Charaktere wirbeln umeinander herum, dazwischen wächst und schrumpft die Szenerie wie in einer knallbunten Raumanomalie. Christopher Wheeldons "Alice im Wunderland" überwältigt den Zuschauer mit einem Feuerwerk an Effekten.
Zur Eröffnung der Ballettfestwoche des Bayerischen Staatsballetts erlebte der Publikumshit vom Royal Ballet London nun seine deutsche Erstaufführung. Für die Kompanie ist das erfreulich, denn in dem Stück ist viel Platz für reifere Tänzer, ebenso wie für junge sprungkräftige Talente. Das wirkt familienbildend. Außer unendlichem Spaß bringt "Alice" den Münchnern also vielleicht auch ein neues, eingeschworenes Staatsballett, das in eine gefestigte Beziehung zum Publikum schreitet.
Doch zur Teeparty! Alice und ihre Schwestern wohnen einer denkwürdigen Gartengesellschaft der Eltern bei, während der die Mutter Jack, den Sohn des Gärtners, ungerechtfertigt beschuldigt und hinausschmeißt. Die Situation ist der Anlass für Alices Flucht in eine andere Welt, in der es keineswegs romantisch, sondern eher skurril und manchmal auch bedrohlich zugeht. Wheeldon strickt aus Lewis Carrolls bekanntem Grundmotiv einen quietschbunten, psychedelischen Traum, in dem der Drogenrausch immer mal wieder mit dem Zaunpfahl winkt. Die Bühnentechnik ermöglicht beispielsweise die zauberhafte Veränderung der Größenverhältnisse in Alices Wahrnehmung, ebenso wie neonlila Pilzschirme oder in Farbprismen aufgelöste Korridore. Als Höhepunkt löst sich die Grinsekatze in einzelne, schwebende Teile auf und setzt sich wieder zusammen. Dazu gibt es das komplette ABC der Lichtstimmungen, als Flut über eine Fülle an erstaunlichsten Kostümen. Bühne und Ausstattung dieses Stücks sind so bezaubernd wie meisterlich.
Flamingomädchen waten im Wasser, zuckersüße Igelkinder wuseln als Krocketbälle herum, eine wilde Köchin mit Hackebeil (Mia Rudic) will das Baby der Herzogin (Matej Ureban) zu Wurst verarbeiten. Und zwischen allem schwirrt Alice, in der Premiere getanzt von Maria Shrinkina. Jung, schnell wie der Wind und mit begeisterter, neugieriger oder trotziger Mine ist sie die Idealbesetzung. Sie meistert die Rolle perfekt. Eigentlich sogar wie im Schlaf. Ebenso wie Vladimir Shklyarov seinen Jack, denn der LSD-Trip hat einen Preis: Es wird nicht allzu viel getanzt. Sicher, die Grundsprache heißt Ballett. Doch dieses erlebt hier recht wenige Sternstunden. Meistens geht es um spektakuläre Sprünge und Hebungen. Oder um Pantomime, Pantomime, Pantomime. Jonah Cooks Verrückter Hutmacher etwa bezieht seinen Charme nicht aus den Stepsequenzen, die Wheeldon für ihn kreiert hat, sondern aus der Interpretation durch seinen Darsteller. Cook gelingt es, Wahnsinn nicht nur durch eine hypnotisierte, manische Mimik, sondern auch mit den Füßen auszudrücken. Er jagt, dreht, ruckelt, und das viel zu kurz. Der "Mad Tapper" (der "verrückte Stepptänzer"), wie er bei Wheeldon heißt, hat nur um die zehn Minuten.
"Alice im Wunderland" streut dem Publikum nicht nur Glimmer in die Augen, es hat auch sehr viel Ähnlichkeit mit Tim Burtons Film vom 2010. Die Kostüme sind praktisch austauschbar, die melodische, doch auch quirlige, alarmierende Musik von Joby Talbot (emotional dirigiert von Myron Romanul) orientiert sich fast schon eklatant an Danny Elfmans Soundtrack. Fast könnte man sagen, Wheeldons "Alice" sei eine Kalkulation aus Gefälligkeit, Trends und Sinneseindrücken. Wenn nicht der dritte Akt wäre. Der Anlauf dauerte lange, aber hier wird nun endlich getanzt! Wheeldon hat einen fröhlichen Walzer voller Twists für das Corps de Ballet kreiert, und so ganz nebenbei auch Séverine Ferroliers Rolle des Lebens - die Herzkönigin. Dass die elegante, erfahrene Französin so witzig sein kann, wenn sie als Schreckschraube ihren Hofstaat herumkommandiert und dabei Dornröschens Rosen-Adagio persifliert, ist die schönste Überraschung des Jahres.
Vor Jahren inszenierte einmal der Australier Graeme Murphy ein Revueballett für München, "Die silberne Rose". Das Werk fiel durch wie kein anderes - und ist jetzt endgültig ausradiert. Christopher Wheeldon zeigt München, wie Broadway auf Spitzenschuhen aussieht: größer, bunter, wilder, witziger. Wer Ballett zur Begleiterscheinung und Tänzer zu Op-Art-Material macht, darf keine Angst vor Superlativen haben. Diese Alice schafft Superlative.