Heiner Müllers "Tristan" in Linz
Durch den Tod zum wahren Leben
Junge Liebende in einem Bühnenbild für die Ewigkeit: Heiko Börner und Annemarie Kremer im zweiten Aufzug. Foto: Reinhard Winkler
Warum soll's einen heute kümmern, wie man vor 25 Jahren auf der Bühne starb? Weil Stefan Suschkes Rekonstruktion von Heiner Müllers Bayreuther "Tristan"-Inszenierung 1993 den Ausflug nach Linz absolut lohnt. Gefühlsausbrüche inmitten höchster Abstraktion - das muss man erstmal so hinbekommen. Linz ist ein Ziel nicht nur für Opern-Nostalgiker.
"Handlung in drei Aufzügen", so nannte Richard Wagner selbst den "Tristan". Handlung? Eine steile These, wie er selbst wusste. Es passiert ja nicht viel, oder doch? Jedenfalls hatte Wagner das Bedürfnis, sich zu erklären. "Beim Tristan ist die Handlung eine ganz innere, seelische geworden", schrieb er. "Sie ist ganz und gar nach innen verlegt, was in dem inneren Menschen vorgeht, wird hier zum wichtigsten Teil der Handlung."
Vergesst also Cornwall, vergesst die Bretagne. Die Landschaften, um die es hier geht, muss man mit der Seele suchen.
Und das haben Heiner Müller und seine Ausstatter mit zunächst geradezu kalt anmutender Präzision getan. Die Figuren des Dramas wirken wie unbeteiligt, wie im Traume. Sie stehen dort, wo man sie hingestellt hat, ziehen ihre Bahnen so akkurat, dass ein Mathematiker sie lebenslang vorausberechnen könnte. Sie kommen einander auch nicht wirklich nahe, berühren, fühlen können sie einander nur in der Gewalt. Oder der Liebe, der größtmöglichen, unmöglichen, zerstörerischen, rettenden Liebe.
Gefühle explodieren - aber das fein dosiert. Ein scheinbarer Widerspruch, der auf der Bühne aufgeht. Heiner Müller hat mit seiner Deutung jedenfalls 1993 in Bayreuth Publikum und Kritiker beeindruckt, wenn nicht gar hingerissen. Von einer "Schlacht der Gefühle" schrieb da ein Beobachter, und das ist es geblieben. Auch 25 Jahre später ist zwischen Tristan und Isolde kein lauer Waffenstillstand denkbar. Logisch ist allein die allergrößte Steigerung der Gefühle, tödlicher Hass oder unbedingte Liebe. Sonst nichts. Dass man sich mittendrin, in all dieser Strenge, den Tränen nahefühlt - das ist das Wunder dieser Inszenierung. Die beiden nehmen den Trank, der ein tödlicher sein soll. Sie kippen um, liegen da wie tot. Und erwachen zögerliche zum wahren Leben, erkennen einander. Was für ein Trug war doch der Tag. Und wie wahrhaftig fühlen die beiden einander in der Nacht.
Das rührt an. Damals. Und auch heute noch. Kurz gesagt: Heiner Müllers einzige Opernarbeit ist zeitlos.
Was die Figuren tragen, passt so gut oder gar nicht ins Mittelalterwie in die Moderne. Yōhji Yamamotos Kostüme sind so steif wie eh und je, symbolisieren damals wie heute die Zwangslage der Figuren, die Haut, aus der sie nicht können. Wie japanisches Design wirkt Erich Wonders gleichfalls legendäres Bühnenbild: Streng, reduziert, geometrisch, edel. Glänzende Oberfläche, aber mit sehr viel drunter. Zu den bekanntesten Bildern jener Inszenierung gehört schließlich das Labyrinth der Harnische im zweiten Akt, das für die militärische Umgebung und das Verhältnis zwischen Lehnsherr Marke und Vasall Tristan steht, aber auch als Irrgarten der Gefühle dient: Tristan und Isolde kommen einander darin nur auf festgelegten Wegen nahe. Zueinander finden sie schließlich in der trauten Zweisamkeit ganz vorne, außerhalb der blechernen Reihen. Die ausgezeichnete Lichtregie, für Linz eingerichtet von Ulrich Niepel, setzt Orientierungspunkte in dieser strengen Geometrie: Wenn Tristan und Isolde zusammenfinden, treten die Harnische sozusagen in den Hintergrund. In goldenes Licht getaucht, sind die Liebenden ganz bei sich.
Reenactment nennt man es, wenn sich Heutige in Uniformen der Vergangenheit hüllen und Schlachten nachstellen. In der Oper ist das Verfahren jüngst ebenfalls zu Ansehen gekommen. Man denke an die Neuproduktion von Wolfgang Wagners 50 Jahre alter "Lohengrin"-Inszenierung in Prag. Eine brave Arbeit, gewiss. Aber keine für eine kurze Ewigkeit, so wie die von Heiner üller. Die Linzer haben in ihrer Co-Produktion mit der Oper Lyon hier etwas Spannendes geschaffen. Stefan Suschke, der Spielleiter dieses Aktes der Opern-Archäologie, ist als Heiner Müllers langjähriger Mitarbeiter ja auch der richtige Mann für diesen Job.
Kurz vorm giftigen Liebestrunk: Tristan (Heiko Börner), Kurwenal (Martin Achrainer), Isolde (Annemarie Kremer) und Brangäne (Dshamilja Kaiser). Foto: Reinhard Winkler
Die Stimmen: Sie kommen, das muss man sagen, so unfair der Vergleich auch scheinen mag, nicht entfernt an die aktuelle Bayreuther Produktion heran, selbstverständlich auch nicht an die ursprüngliche Bayreuther Besetzung von 1993, mit Siegfried Jerusalem und Waltraud Meier (die sich Heiner Müller seinerzeit so streng zur Brust nahm, dass der zum zerknirschten Frühaufsteher wurde). Annemarie Kremer zum Beispiel ist eine spielerisch überzeugende Isolde, die allerdings in den Spitzen angestrengt und spröde klingt. Heiko Börner tarnt seinen Tristan klug und stimmökonomisch im ersten Aufzug als Leichtmatrosen, um im Verlauf des Dramas der Stimme endlich die Zügel schießen zu lassen. Womit man nahezu uneingeschränkt zufrieden sein darf, ist das Orchester der Linzer: Im Gegensatz zu Wagners Bühnenfiguren stets hellwach, meist fein dosiert vom Pianissimo bis zum Forte, allerdings kein Bayreuther Mischklang, sondern Transparenz in jeder Phase. Auch mal schön, kantiger, eher frisch als parfümiert. Das Vorspiel zum dritten Aufzug ist geradezu großartig. Der Münchner Markus Poschner ist ein feiner, sehr präziser Dirigent, der allerdings nicht immer Rücksicht auf die Sänger nimmt: Die müssen gegen das Orchester mitunter ganz schön über die Rampe schieben.
Am Ende sehr langer Beifall, Bravos für Orchester, Dirigent und die wackeren Sänger. Und von uns eine Empfehlung: In etwas mehr als drei Stunden ist man mit der Bahn in Linz, von dort aus in gerade mal fünf Minuten in der schönen Linzer Oper.
Mehr Informationen unter www.landestheater-linz.at.
Anm.d.Red. (24.9.2018, 10.20 Uhr): Ein Tippfehler im Vorspann wurde korrigiert.