Versuch einer Bilanz zum Festival Spielart
Zwei Wochen Weltreise
Zwei Wochen Spielart, das sind auch zwei Wochen Weltreise, und das innerhalb der Grenzen der Münchner Innenstadt. Viel Theater eben, und das in großer Vielfalt, ein erweiterter Horizont, mit neuen Erfahrungen auch mit sich selbst als Zuschauer. Als Teil des Ganzen, sozusagen. Wie blickt man auf das Geschehen nach der gefühlt 15. Produktion innerhalb einer Woche, ist man ermüdet nach dem dritten Stück des Abends? Ist man irgendwann überhaupt durch, oder erst so richtig angefixt? Was bleibt übrig nach zwei Wochen Unterwegssein? Eine Auswahl.
Es bleibt zum Beispiel diese Erkenntnis: Poesie kann wichtiger sein als konkrete Botschaft. Louis Vanhaverbeke lässt wie schon vor zwei Jahren in „Multiverse“ in „Mikado Remix“ die Dinge aufs Vertrackteste miteinander kommunizieren und leistet damit einen geradezu unverzichtbaren Beitrag zur Wiederverzauberung der Welt. In einem zellenartigen Bauzaun-Geviert wird irgendwann eine Produktionsstätte von Waffeln, ein Propeller, ein Hindernisparcours, eine Projektionsfläche. Während er so behend umbaut, summt und singt und sampelt Vanhaverbeke seinen eigenen Soundtrack, so verspielt und versponnen wie der ganze Typ. Mit seinem Lastenfahrrad entkommt er am Ende aus der Muffathalle ins summende und brummende Dunkel der Münchner Nacht. Immerhin, wir werden über verwackelte Bilder von seiner Fahrt beruhigt, es scheint ihm gut zu gehen da draußen. Und schließlich sendet er uns auch noch Grüße aus dem „Lost Land“. So hoch konzentriert, ernsthaft und liebevoll Vanhaverbeke seine Bilder orchestriert, muss sein Unterfangen ehrenwert und wichtig sein. Man muss es gar nicht verstehen, um am Ende ein seliges Lächeln aufgesetzt zu haben.
In dieselbe Liga gehört Forced Entertainment. Die Truppe aus Sheffield zeigte zwei Produktionen, „Speak Bitterness“ im Gasteig und „And On The Tousandth Night“ in der Muffathalle. Wieder keine konkrete Botschaft, wieder keine kunstvoll verdrechselte „Erzählung“, der es zu folgen gilt, aber zweimal zauberhaftes Theater. In „Speak Bitterness“ tragen sechs Schauspieler wie in einem Schauprozess immer wieder neue Bekenntnisse vor, vom Allerdrolligsten (habe einen Bus mit so vielen Duftbäumen vollgehängt, bis alle Fahrgäste speien mussten) bis hin zum Geständnis des Völkermords. Ein Panorama der Conditio Humana, der Mensch, das fehlerhaften Wesen, in seinen lächerlichsten und grässlichsten Verfehlungen. Das in einem so knochentrockenen Ton vorgetragen, dass noch das Niederträchtigste ein komisches Element offenbart. Man bleibt gefesselt sitzen.
Dabei kann man kommen und gehen, wie es einem passt. Wie auch in „And On The Thousanth Night“. In der Nacht vor der eintausendundersten tanken einen die Briten in der Muffathalle mit Mythen, Anekdoten, Filmplots, Märchen und Zoten voll. Mit Papierkronen und roten Umhängen treten die Akteure auf, als Könige der Verstellungskunst, die über die Kraft der Vorstellung gebieten. Keine Geschichte kommt zu ihrem Ende, jedes Mal fällt der eine oder die andere dem Vorredner ins Wort – auf dass die Geschichte mit "Once upon a time" wieder aufgenommen oder überhaupt auf ein anderes Gleis gesetzt werde. Man ist wiederum gefesselt und weiß nicht mal warum. Hier zappt der König, von einem Programm ins nächste. Klasse!
Die Freiheit im Tanz
Wenn es um Freiheit geht, um Freiheit des Denkens, der Imaginationskraft, um die Kraft, die es braucht, um Grenzen zu sprengen, darf man ein Double Feature im Gasteig nicht vergessen: Laila Soliman gibt in „My Body Belongs To Me“ sechs Akteurinnen – Müttern , Hausfrauen aus dem Sudan und Eritrea – eine Bühne, auf der das Sextett vom Leben als Frau im Allgemeinen und vom fürchterlichen Eingriff der Genitalverstümmelung im besonderen berichtet, in Erzählungen und Liedern. Ohne Gehabe, frei von Selbstmitleid, mitunter berückend schön: eine sehenswerte erste Hälfte eines Abends, der in „Solo für Maria“ den Höhepunkt findet. Man sieht: Bewegung, Bilder. Und stellt fest: es ist egal, was man zuvor gesehen, was man zuvor für sich eingeordnet zu haben meint. Die Schauspielerin und Tänzerin Maria Domingos Tembe zeigt, was sie kann, durchbricht damit Gewohnheiten und Erwartungen. Im zweiten Teil ihrer Performance, in Szene gesetzt vom Regisseur und Choreographen Panaibra Gabriel Canda, erzählt Maria Domingos Tembe von Gewalt, Zurückweisung, von Rückschlägen – und dem Ausbruch. Das alles in mitunter höchst poetischen Bildern, in denen sich Maria als himmlische Herrin wie als Königin der Nacht zu präsentieren weiß. Eine Performance voller Kraft und Hingabe. Und Bilder, die einem hoffentlich bleiben. Kunst und Können sind so vereint, dass Maria Domingos Tembe einen wie eine Naturgewalt ergreift - wer darin einen Lobpreis liest, liegt richtig. Und wer zuvor nicht nachgedacht hatte, über die dämliche Floskel von „an den Rollstuhl gefesselt“ zum Beispiel, wird es danach getan haben. Was für eine zwingende Wucht Theater doch ab und an entfaltet.
Es gab viele, die etwas zu sagen hatten. Julian Hetzel mit seiner Produktion „All Inclusive“ etwa, furios aufgeführt in der Kammer 2 der Kammerspiele. Ziemlich verwegen, dreist geradezu, führt einem Hetzel Mechanismen des Kunstmarkts vor. Eine Gruppe von Geflüchteten aus dem Mittleren Osten und Afghanistan wird durch ein fiktives Museumsgebäude geführt. Eine Kuratorin doziert, was sie zu sehen haben, dabei kennen sie das alles allzu gut: Bilder vom Krieg, von Gewalt, Trümmer, Blut. Alles, so sehen wir, kann Kunst werden, alles ist nur eine Frage der ästhetischen Theorie. Und wir ertappen uns bei einer naheliegenden Frage: Um im Rauchpilz einer Detonation Schönheit zu sehen – wie verkommen oder wie gebildet muss man dazu sein? Auch das ist eine Frage der Perspektive. Jedenfalls gibt es immer jemanden, der so etwas kauft. Da ist Hetzel verdammt nah an der Realität. Wie alle Geschäfte mit dem Krieg lohnt sich auch das Geschäft mit in Kunst destillierter Gewalt. Souverän, abgefeimt, virtuos – und schon, indem man dieser Virtuosität Beifall zollt, mit ihrem geradezu unerträglichen Zynismus, ist man Hetzel auf den Leim gegangen. Starker Abend. Wer wollte, konnte danach durch den „Museumsshop“ flanieren. Dort wurde als Souvenir auch eine Glaskugel feilgeboten. Nicht mit Schneegestöber, dafür mit Rauchpilz.
Mit der Wahrnehmung seines Publikums, mit seinen Erwartungen spielte auch Nashilongweshipwe Mushaandja in „Ondaanisa yo Pomudhime“ („Der Tanz des Gummibaums“). Der Gummibaum dient ursprünglich Ritualen, etwa der Reinigung. Überhaupt wohnen die Zuschauer vor dem tempelartigen Eingang der Ägyptischen Staatssammlungen offenbar Ritualen bei. Mushaandja schreitet würdevoll, tanzt, trägt in beschwörendem Ton Forderungen vor. Ob es nun ums Abfackeln des Museums ging, um den Tod des Kurators, um das Museum als KZ – das Publikum spricht befremdet, belustigt und irgendwann ergriffen mit und wiegt sich zu den Klängen afrikanischer Musik. Das hatte schon was von Völkerschau. Da wäre dem Kollegen Egbert Tholl von der SZ zuzustimmen: Offenbar kennen die Afrikaner die Europäer besser als die Europäer die Afrikaner. Sich tatsächlich umzusehen, Interesse aufzubringen, sich vor Augen zu führen, was Landraub, Unterdrückung und Korruption der kolonialen Systeme an Traumata verursacht haben: Mushaandjas Produktion darf man als dringende Einladung zur endlich mal ehrlichen und damit ergebnisoffenen Auseinandersetzung mit Afrika darf man Mushaandjas Produktion sehen.
Trauer um die Kinder
Wie auch „Olomoyoyo“ von Jelili Atikus aus Lagos, Nigeria: Tanz und Prozession, Kerzenlicht, Klang und rätselhafte Holzfiguren, die Kinder oder Götter darstellen können, wiederum ein Sühneritual. Jelili Atiku schlüpft in die Gestalt der Kori, die in der Yoruba-Religion in Westafrika als Göttin über das Heil der Kinder wacht. Eindrucksvolle, stille Bilder, gewiss – aber eigentlich ist Atikus Performance ein Schrei. Er erinnert an die Bedrohung der Kinder allenthalben, nicht zuletzt durch die Mordbuben der Boko Haram. Es brauchte einige Mühe, um die blitzblanke Gegenwart des Münchner Museums mit dieser Realität zu verbinden. Ein Fingerzeig auch das, darauf, mit wie viel Sinn für Ästhetik wir uns den Blick auf die Wirklichkeit andernorts verbrämt haben. Das Leben der Menschen spielt sich eben in den wenigsten Fällen im Museum ab. Danke für den Hinweis.
Verwundbarkeit als Stärke
Es gäbe noch was zu berichten. Etwa von „Museum of Lungs“ in der Kammer 3. Die Schriftstellerin Stacy Hardy erzählt von ihrem Trauma und von ihrer Infektion mit Tuberkulose. Bei einem Sturz verletzt sie sich, ihre zuvor schützende Haut wird durchlässig für den Erreger und damit sie für Erkenntnisse – etwa darüber, wie stark die Herkunft über Heilungschancen bestimmt. Stacy Hardy berichtet wahrhaftig von ihrer Krankheit und dem Leiden an einer rassistischen, ungleichen Welt, von Leiden daran, nicht mehr begehrt zu werden, und sie traf einen mit ihrer Verwundbarkeit mitten auf die Zwölf. Ihre Geschichte geht in die Krankheitsakte einer Gesellschaft ein und ist doch auch ganz allgemein großes menschliches Drama. Regisseurin war Laila Soliman, sie hatten wir schon erwähnt, mit „My Body Belongs To Me“. Der Körper mag einem gehören, aber vielleicht doch nur als Rohmaterial, in das sich jedes Menschen Schicksal eingraviert. Und dieses Schicksal schert sich nicht um Eigentumsverhältnisse.
Die Eindrücke von zwei Wochen Spielart aber – die gehören uns. Bis auf weiteres zumindest.