"Medea" am Resi
Ein Alien in Korinth
Tolle Atmosphäre, viele Einfälle, und doch kein gänzlich durchschlagender Abend: Karin Henkels "Medea"-Inszenierung erzählt wort- und bilderreich von einer Migrantin, die zur Terroristin für die Sache der Frauen wird.
Es gab zweimal Szenenapplaus, quasi als Vorschuss auf den ganz großen Beifall mit viel Johlen hinterher. Ein bemerkenswert frohgemutes Publikum machte da seiner Begeisterung über Karin Henkels "Medea" am Residenztheater Luft, vielleicht jubelten da aber auch Eltern, es waren ja auch wirklich viele Kinder auf der Bühne gewesen.
Oder die Zuschauer freuten sich einfach darüber, dass das eigentlich Entsetzliche am Drama um Medea - dass eine Mutter ihre beiden Söhne kaltblütig mordet - so gnädig an ihnen vorüber gegangen war. Schließlich killt Medea (Carolin Conrad) ihre Sprösslinge fast beiläufig, entrückt jedenfalls, im Schaukasten überm Bühnen-Erdgeschoss, so weit entfernt, dass der Kasten fast wie eine Video-Leinwand in einer Inszenierung von Frank Castorf wirkt. Abstrakt, dieser schauerliche Mord.
Wobei die Bühne, das muss man gleich mal sagen, aufgeräumter wirkt als Aleksandar Denics für Castorf gezimmerte Architekturen. Thilo Reuther hat aus Medeas neuer Heimat Korinth einen geradezu atemberaubend schroffen, aber auch sterilen Ort gemacht, tiefnachtschwarz, mit Leuchtstoffröhren an der Seite, die mit ihrer Funzeligkeit eher die Finsternis unterstreichen als aufhellen. Eine Laserprojektion erschafft einen geometrisch streng abgezirkelten, unheimlich irisierenden Stollen, der wie der Maschinenraum der Nostromo wirkt. Irgendwo muss hier ein Alien lauern.
Karin Henkel hat sich viel einfallen lassen. Die ganze Vorgeschichte legt sie in die Hände einer Patchworkfamilie. Nicola Mastroberardino, ein Lehrer, so cool, wie es ihn im wahren Leben kaum gibt, entlockt zwei putzigen Knaben im pädagogisch wertvollen Gespräch die ganze Vorgeschichte: Wie es dazu kam, dass Iason und Medea das Goldene Vlies nach Korinth brachten, wie sie schon dabei über Leichen gingen. Die drei lassen derweil eine Spielzeuggaleere über die Wasserfläche schippern, einer der Buben stellt sich breitbeinig hin, auf dass das Bötchen durch dieses Tor in den sicheren Hafen einfahren kann - so hat man sich mal den Koloss von Rhodos vorgestellt. Schließlich ist man in der Gegenwart angelangt, in Korinth, "Korinthenkacker", rufen die beiden, die Söhne von Iason und Medea. Lustig ist das, wenn auch nicht sinnstiftend. Mastroberardino ist da schon in die nächste Rolle geschlüpft, er ist nun Amme.
Ein zentrales Element von Karin Henkels Inszenierung ist der Mädchenchor. Er mahnt und kommentiert, ganz wie die antiken Vorbilder, legt aber zwischendurch auch mal rätselhafte Fährten: Zu Beginn schwenken die Mädchen mit blonden Perücken auf den Köpfen kleine Fähnchen, was ein bisschen wirkt wie eine Mischung aus FDJ-Aufmarsch und Stephen King. Dann wieder tauchen sie in Zivil auf, einmal auch in Burkas. Ganz am Ende sieht man, wozu das Ganze gut ist, gerade noch rechtzeitig, bevor man das Ganze unter "nutzlose Dekoration" abhaken konnte.
Es ist also einiges an Raffinesse an Bühne, Licht und Kostümen aufgeboten worden. Bei den Schauspielern stößt Karin Henkel an ihre Grenzen. Carolin Conrad und Aurel Manthei machen das ganz und gar nicht schlecht, sie kommen nur nicht raus aus ihrer harten Haut. Der Schmerz der einen und die Selbstgerechtigkeit des andern sind so monumental, dass die beiden darüber selbst zu Standbildern werden. Beide sind keine Sympathieträger, sie erwecken keine Anteilnahme, was sich am Ende irgendwie aber auch ins Ganze fügt. Es stört allerdings nachhaltig, dass die Schauspieler, kaum des Redens ledig, mitunter auch nur herumstehen, alleingelassen von der Personenführung.
Franziska Hackl ist als Kreusa eine Zicke, die an ihre Macht nicht glauben mag. Sie hüllt Medea in ein hässliches Kleid und gebietet ihr, wie ein Frosch zu hüpfen. Die Schikane nimmt man ihr ab, nicht aber der Medea ihre Unterwürfigkeit. Warum tut sie das? Damit wir am Ende ihre Rache billigen? Michael Goldberg ist ein feiner Kreon, nicht laut, aber beweglich in seinen darstellerischen Mitteln, ein König, mehr schlau als klug und mehr schwach als wirklich grausam.
Aurel Manthei erzählt irgendwas von "was ein Mann tun muss", und es ist klar, dass er damit scheitern muss. Medea stellt dem ein "Ich bin was ich bin" entgegen: "Niemand halte mich für schwach! Ich bin anders, und das soll die ganze Welt erfahren." Sie gelangt mit ihrem Akt der Selbstbehauptung ans Ziel: Ihr Mord an Kindern und Königsfamilie ist ein terroristischer Akt der Emanzipation, der Überwindung des Patriarchats nicht nur für sie allein, sondern für all die Mädchengestalten in ihren verschiedenen Verkleidungen. Während die vergnügt durchs Wasser plantschen, eine Welle nach der anderen, wie Angriffsreihen unbesiegbarer Frauen.
Mit Hilfe des Königs von Athen hat Medea aus Korinth fliehen können, in Attika erhält sie Heimat und Hand des Königs. Auch der wird gespielt von Nicola Mastroberardino. Er ist der wahrhaft Wissende in diesem Spiel, ein spöttischer Gott vielleicht? Die beiden blicken huldvoll herab auf das paradierende Jungvolk, statt der zwei Jungen zwei Mädchen an ihrer Seite. Eine neue Familie, ein neues Glück, auch für die Frauen aller Länder. Jetzt ehrlich? Das geht dann doch ein bisserl schnell. Und ganz so früh hat sich die Emanzipation ja dann doch nicht durchgesetzt, wie man heute weiß.
Vielleicht erzählt Karin Henkel da nur von einem Traum einer Frau, davon, wie es hätte sein können, wohl wissend, dass es so nie war. Eine so irre Wendung ist denkbar; sie hätte dann aber weit mehr Aberwitz benötigt, als diese handwerklich kluge und doch biedere Inszenierung aufbot.