Karl Stankiewitz über Joseph Beuys und München
Der Müllmann kommt!
Der am 23. Januar 1986 verstorbene Düsseldorfer Kunstrevolutionär Joseph Beuys, der am 12. Mai 2021 seinen 100. Geburtstag hätte feiern können, hatte zur Kunststadt München ein gespaltenes Verhältnis. Lange hat es gedauert, bis ihn die hiesige Szene überhaupt wahrnahm. Es war der 28-jährige, aus dem Chiemgau zugezogene Franz Dahlem, der 1965 über den Darmstädter Kunsthändler Karl Ströher einige Zeichnungen des studierten Bildhauers Beuys erwarb und in München, wo dieser bereits “Multiples“ entworfen hatte, erstmals vorstellte.
Dahlem und der gleichaltrige Berliner Fabrikantensohn Heiner Friedrich hatten in ihrer legendären Galerie in der Maximilianstraße viele der längst zur Weltspitze zählenden Künstler bekannt gemacht. Doch erst 1976 trat Beuys, der nach aufsehenerregenden Aktionen und Provokationen von Düsseldorf nach Hamburg übersiedelt war, in München öffentlich in Erscheinung. In Zusammenarbeit mit der Galerie Schellmann & Klüser präsentierte die Städtische Galerie - allerdings nicht im Lenbachhaus, sondern im düsteren, wenig besuchten Maximiliansforum - eine raumfüllende Installation mit dem Titel: „Zeige deine Wunde“. Gezeigt wurden da zwei Leichenbahren sowie mehrere Metallkästen, Tafeln und Einmachgläser, in denen Vogelschädel, Fieberthermometer und anderes medizinisches Gerät zu erkennen waren. Sein Werk bleibe nicht bei der Verwundung stehen, sondern enthalte auch Andeutungen, dass die Todesstarre überwunden werden könne, kommentierte der Künstler.
Tatsächlich hatte er, der 1944 angeblich als Kampfflieger auf der Krim abgestürzt und schwer verwundet worden war, später oft an Depressionen gelitten, die er um 1958 nach aktiver Feldarbeit überwunden zu haben glaubte. In München und darüberhinaus führte das Exponat bald zu lang anhaltenden Auseinandersetzungen. Sie spitzten sich zu, als die Städtische Galerie die „Wunde“ für 27.000 Mark ankaufte und im Januar 1980 vom Künstler selbst im Lenbachhaus inszenieren ließ. Dies bedeute für die Galerie den Durchbruch von einer lokalen zu einer „national und international agierenden Institution“, verkündete Münchens progressiver Kulturreferent Jürgen Kolbe, der nun „eine Art Kulturkampf“ erleben sollte. Der Amtsträger Kolbe wie auch der Galeriedirektor Armin Zweite, der (viel) später das Museum Brandhorst leitet, wurden wüst beschimpft. Populismus gegen Kunst.
Beuys selbst, den Zeitungen gern als komischen „Mann mit Hut“, als „Schmerzensmann“ und schließlich als „Müllmann“ karikierten, sagte bei der Eröffnung nur: „In diesem Konzert der Dinge spreche nicht ich, sondern die Dinge haben ihre eigene Sprache.“ Erst später erläuterte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung seine Idee: „Eine Wunde, die man zeigt, kann geheilt werden.“ Doch sogar Kultur- und Mandatsträgern fehlte zunächst jedes Gespür dafür, dass in dem rekonstruierten Krankenzimmer auch die Krankheit der Gesellschaft, Alter und Sterblichkeit einen zeitgemäß künstlerischen Ausdruck finden sollten. „Der teuerste Sperrmüll aller Zeiten“ – dieses Verdikt aus einem Malermund wurde in Teilen der Szene zum geflügelten Wort.
Cover von “Jeder Mensch ein Künstler - Auf dem Weg zur Freiheitsgestalt des sozialen Organismus", erschienen im FIU-Verlag (ISBN 978-3-928780-52-0)
Besonders zornig gebärdete sich Münchens bereits hoch umstrittener Kreisverwaltungsreferent Peter Gauweiler. Dem ewigen Sittenwächter erschien der „Müll“ als Markenzeichen eines von ihm gegeißelten „Kulturverfalls". Der Landtagsabgeordnete Richard Hundhammer, ebenfalls CSU und Abkömmling des einst tiefschwarzen Kultusministers Alois Hundhammer, reichte wegen des Ankaufs sogar, erfolglos, Aufsichtsbeschwerde bei der Regierung von Oberbayern ein. Gespött und Gezänk schwanden erst, als Rang und Bedeutung des Künstlers Joseph Beuys allmählich über die engere Kunstwelt hinaus manifest wurden. Fortan spielte das öffentliche Geld auch keine so emotionale Rolle mehr bei der Bewertung seiner Werke, die er oft verschenkte trotz aller Preisrekorde. Das Land Hessen zum Beispiel bezahlte 1989 für eine Beuys-Installationen ganze 16 Millionen Mark. Der Kulturkämpfer a. D. Kolbe blickte 1997 noch einmal mit Zorn zurück auf seine kommunalpolitischen Kollegen in München. Denen von der CSU bescheinigte er eine „gehörige Ladung von Hass auf die Moderne“, der SPD kreidete er eine Mischung von Desinteresse und Unverständnis an.
Immer noch werde kommunale Kunstförderung als Kunstverhinderung verstanden und öffentliche Geselligkeit als öffentliche Kunstübung. Als Kolbe 2008 starb, widmete ihm auch sein wendiger Widersacher Gauweiler einen würdigen Nachruf. In einem Brief an die Abendzeitung rückte er ab von seinen damaligen „Attacken“ gegen Kolbe, Zweite und Beuys. Da sei wahrscheinlich auch Eifersucht im Spiel gewesen, meinte er unsicher, weil das, was wir Konservativen der Stadt gaben oder geben wollten, "bei den Kultureliten der Presse nicht so ankam“. Ein gutes Stück mehr noch staunte und fremdelte man in München als „Das Ende des 20. Jahrhunderts“ kam. So betitelte Joseph Beuys eines seiner kolossalsten Werke, das er 1984 zunächst in Berlin, dann im Haus der Kunst in München installierte und das inzwischen in der Pinakothek der Moderne den großen Raum 20 füllt. 44 nur wenig bearbeitete Basaltsäulen aus vulkanischem Gestein mit Löchern, Tonerde und Hubwagen – soll auch dies ein Sinnbild der Verwundbarkeit sein? „Das ist die alte Welt, der ich den Stempel der neuen Welt aufdrücke", erklärte der Kunstprophet. Kunstexperten ergingen sich angesichts des Trümmerhaufens in unentschlossenen Interpretationen oder begnügten sich mit der eher banalen Deutung, Beuys wolle hiermit das Zusammenleben von Menschen in der Gesellschaft symbolisieren.
Dem Schreiber dieser Erinnerung fiel seinerzeit auch nicht mehr ein als der Eindruck: „Das sieht aus, als wäre der ganze Betontempel der Nazis, der ja den Krieg überstanden hat, nun doch noch zusammengebrochen."
Karl Stankiewitz ist Autor des 2013 im Volk Verlag erschienen Buches „Die befreite Muse. Münchner Kunstszenen ab 1945“.