Die Verlorene Ehre der Katharina Blum am Volkstheater

Klare Wahrheiten zum Saisonstart

von Michael Weiser

Den Toedges im Visier: Katharina Blum (Ruth Bohsung) vorm finalen Schuss. Foto: Gabriela Neeb

Ach ja, da war mal was: In "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" goss Heinrich Böll 1974 die Verachtung der 68er für "Bild" und Springer-Konzern in die Form einer Erzählung. Lange genug her; so lang, dass man sich fragen darf, warum Philipp Arnold am Münchner Volkstheater Bölls Buch auf die Bühne gebracht hat.

Mehr Retro war noch nicht im neuen Münchner Volkstheater. Tapeten mit psychodelischen Mustern, Rauchen in der Polizeistube, ein Kabeltelefon mit richtigem "Rrrrring"-Ton,hornhautfarbene Anzüge, vor allem aber ein Feindbild, das erkennbar aus der Blütezeit des papierbasierten Journalismus stammt: Die Zeitung mit den vier großen Buchstaben ist allgegenwärtig, auch wenn sie hier drei große Buchstaben mehr hat und einfach "Zeitung" heisst.

Vordergründig geht es um ein Thema, das an Aktualität nichts verloren hat. Im Gegenteil: ein Thema, das facettenreicher und überhaupt schillernder geworden ist, totaler, womöglich zerstörerischer. Es geht um Medien, die damals im wesentlichen wirklich aus Print, Radio und TV bestanden. Und es geht um Manipulation.

Auch was die Möglichkeiten der Beeinflussung betrifft, hat sich viel getan. Die so genannten sozialen Netzwerke haben die "Bild" als Pranger der Nation längst überholt. Und gegen die Fake News, die in diversen Blogs, Telegram- und Signalgruppen verbreitet werden, ist ja "Bild" fast so etwas wie der Mund der Wahrheit. Gegen die einfallsreiche Bösartigkeit der heutigen Netzwelt wirken die Machenschaften der 70er bieder.

Warum belässt Philipp Arnold Bölls Vorlage von der "Verlorenen Ehre der Katharina Blum" in ihrer Zeit? Vielleicht, weil die Interpretation von Bölls Werk als Kritik an der Manipulationsmacht der Medien schon immer zu kurz gegriffen war. Böll hatte eine Meinung davon, was den Menschen zum Menschen macht. Für ihn war es die Sprache.  Bevor er in seinem schmalen Buch über die Vernichtung eines Menschen durch die Medien schrieb, hatte er über die Vernichtung der Wahrhaftigkeit im Wort nochgedacht.

Erst die Sprache, dann das Schicksal

Eine Frau und ihr mediales Abbild: Ruth Bohsung und Nina Steils als Katharina Blum. Foto: Gabriela Neeb

Die eindruckvollste Szene in Arnolds Inszenierung ist denn auch jene, in der die beiden Kriminalbeamten (Jonathan Müller, Max Poerting),  die Katharina Blum (Ruth Bosong) der Komplizenschaft mit einem Terroristen überführen wollen, sie erstmals verhören. Sie spricht von der "Zudringlichkeit" eines früheren Partners, die beiden Beamten setzen "Zärtlichkeit" ins Protokoll.

Was Blum zu entschiedener Widerrede veranlasst. Schließlich beruhe "Zärtlichkeit" auf beiderseitige Handlung, "Zudringlichkeit" hingegen sei einseitig. Die beiden Beamten verstehen nicht, oder vielmehr, sie wollen nicht verstehen. Das sei doch Haarspalterei, halten sie ihr vor, so dauere das Ganze doch unnötig lang.

Wenn die Wirklichkeit dem Drehbuch folgt

Philipp Arnold nützt die großzügigen Dimensionen der Volkstheaterbühne ausgiebig für Projektionen. Alles nur Vorspiegelung, alles nur Wirklichkeit, die Theater nachmacht: Die Wände von Vernehmungsraum und von Blums Appartement bestehen aus Sperrholz und wirken wie Kulissen in einem Filmstudio (Bühne Viktor Reim), die Akteure filmen sich gegenseitig.

Auch Katharina Blum spielt in diesem Film auf der Bühne eine Rolle. Irgendwann verbindet sich der polizeiliche Hang zur Selbstdarstellung mit dem Geschäftsinteresse der Medienmacht. Und aus der zurückgezogen lebenden Frau wird Futter für die Öffentlichkeit. Ab diesem Zeitpunkt bringt Arnold Nina Steils als zweite Katharina Blum an Bosongs Seite.

Überraschenderweise macht Arnold damit die Schwäche von Bölls Buch sichtbar. Widersprüchlich, wie Menschen nun einmal sind, zum Beispiel verletzlich und wehrhaft zugleich, ist nur Katharina Blum. Die andern sind Abziehbilder, Komparsen. Erst recht der einfach böse Bild-Mann Toedges (Julian Gutmann).

Klar und erhellend das Ganze. Man hat's alsbald verstanden. Man soll nicht falsch Zeugnis ablegen, ein Verbot, das schon an dem Punkt anfängt, an dem man das Zeugnis des Gegenübers falsch auslegt. Philipp Arnold kann man nicht missverstehen. Verstehen aber kann man ihn auch nicht - warum nur hat er diesen Stoff gewählt?

Veröffentlicht am: 12.10.2022

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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