Der Fotokünstler Olaf Unverzart erhält den Kulturpreis Bayern

Mit Scheuklappen sieht man mehr

von Christa Sigg

Markt in Otavallo. Foto: Unverzart, 1993

Manchmal fragt man sich, wie lange Olaf Unverzart auf diesen einen schrägen Moment gewartet hat. Also, bis ein Affe auf dem Fahrrad vorbeirollt oder sich zwei Männer im langen arabischen Thawb irgendwo im Sand von Katar an den Händen halten. Und wie es den Fotokünstler an all diese ungewöhnlichen Orte gespült hat, überlegt man sowieso ständig – und ganz konkret beim Durchblättern seines neuen Bildbands „Walking Distance“. In diesem Reisetagebuch blickt der aktuelle Träger des Kulturpreis Bayern auf 30 Jahren seiner Arbeit zurück, immer neugierig, immer offen.

Herr Unverzart, Ihr neuer Fotografie-Band führt um die ganze Welt. Bis auf zwei, drei Bilder ist allerdings nie klar, wo die Aufnahmen entstanden sind. Dazu muss man erst das Verzeichnis ausklappen und suchen.

Olaf Unverzart: Mir ging es darum, einen unvoreingenommenen Blick auf die Welt zu zeigen und genauso den, der mich und meine Arbeit ausmacht. Oder besser gesagt, den Blick auf die Straße und dieses große fotografische Genre, das langsam ausstirbt.

Weshalb?

Das hat mit der Digitalisierung zu tun. Leuten, die mit der Kamera unterwegs sind, begegnet man mittlerweile mit großer Skepsis. Die Unbefangenheit ist verschwunden. Für mich und die Kollegen ist es schwieriger geworden. Insofern werfe ich einen melancholischen Blick auf die analoge Zeit. Bei meiner Auswahl fürs Buch habe ich zum Beispiel auch Mobiltelefone und andere Technik vermieden, die sich rapide verändert.

Täuscht es, oder nimmt das auch die Geschwindigkeit aus den Bildern?

Stimmt schon, man gewinnt den Eindruck, die Menschen haben Geduld und sie langweilen sich sogar. Eigentlich ein wunderbarer Zustand.

Ihre Bilder sind auch Gesellschaftsstudien, oft fern von der Sonnenseite.

Wenn ich in den letzten Jahrzehnten gereist bin, dann war das kein Urlaub. Ich buche nichts und kenne weder meine Unterkunft und oft nicht einmal den Ort, an den es mich spült. Wenn man sich treiben lässt, kommt man mit den Einheimischen am besten in Kontakt. Das betrifft eher die unteren sozialen Schichten. Dann gibt es einen Cousin, bei dem man übernachten kann, und so geht das weiter und weiter.

Dann finden Sie Ihre Bilder durch Zufall?

Wenn ich nicht gerade ein konkretes Thema habe, für das es eine intensive Vorrecherche braucht, wie etwa das illegale Goldschürfen in Ghana, gehe ich einfach los. Das hießt, die Gegend muss mich schon interessieren, und dann schaue ich, was passiert. So sind die Bilder im Buch entstanden. Ich bin ja kein Tourist, der im Minibus angefahren kommt und kurz für eine Aufnahme aussteigt. Lieber mische ich mich unter die Leute, so entsteht eine ganz andere Nähe.

Ihre Bilder arbeiten im Kopf weiter, und sie wecken auch Emotionen. Sind Sie engagiert?

Mir sind die Leute nie egal, nicht einmal die unangenehmen. Durch das Fotografieren versucht man natürlich, Dinge für sich zu klären oder einzuordnen. Aber in der Tiefe bin ich ein Menschenfreund. Und je älter ich werde, desto mehr interessieren mich Biografien – auch in Buchform.

Ist das Leben Kampf?

Messerschleifer. Cusco, Peru. Foto: Unverzart, 2020

Wenn ich an die Menschen im Buch denke, dann ist das Leben da, um zu überleben. Es gibt für mich eine Grenze, wer drüber ist, hat ein Dach überm Kopf und genug zu essen. Da kommt es auch nicht so sehr darauf an, wie viel man tatsächlich besitzt. Unter dieser Grenze wird es krass, denn alles außer der Beschaffung von Bleibe und Essen hat keinerlei Bedeutung mehr. Dennoch meine ich, unabhängig vom Ort und der sozialen Schicht, ist das Leben ein Kampf.

Die älteste Aufnahme aus dem Buch entstand 1992 in Amberg in der Oberpfalz: Ein Mädchen sitzt da mit einer Apfelschorle. Ganz ruhig. Sie könnte genauso das Mädchen beim Cheerleader-Training 2022 in Genua sein, das für einen Moment innehält. Kann es sein, dass sich Ihr Blick als Fotograf gar nicht so sehr verändert hat?

Im Prinzip mache ich die gleichen Bilder wie am Anfang. Ich interessiere mich auch für ähnliche Dinge, möchte sie manchmal weitererzählen. Dabei fotografiere ich fast immer mit dem normalen Objektiv oder mit einem leichten Weitwinkelobjektiv. So bin ich mehr Teil der Szene. Ich möchte kein Außenstehender sein, der auf etwas drauf- und schon gar nicht auf etwas runterschaut. Daran hat sich nichts geändert. Natürlich kann man mit der Zeit gehen, sich ständig neuen Moden anpassen. Aber mir war früh klar, dass das nichts für mich ist.

Die Fotografien im Buch sind schwarz-weiß, dazu kommt noch eine starke Körnung. Sind Sie auf der Suche nach einer vergangenen Zeit?

Nicht auf der Suche, aber es ist auf jeden Fall eine Art Resümee, in dem eine analoge Zeit noch einmal auflebt. Und das mit all ihren Besonderheiten.

Sie unterrichten seit 2011 am Mozarteum in Salzburg. Was vermitteln Sie einer Generation, die bereits mit einer Flut von Bildern aufgewachsen ist?

Kleinwüchsiger führt Blinden, Addis Abeba. Foto: Unverzart, 2008

Ich versuche, den Studierenden einen Filter mit auf den Weg zu geben. Sie sollen herausfinden, wer sie sind und was sie interessiert – und die unzähligen Optionen drumherum weglassen. Wenn Sie so wollen, empfehle ich das Zulegen von Scheuklappen. Es kann nicht sein, dass einen alles interessiert. Sich auf weniges zu konzentrieren, gibt die Möglichkeit, in die Tiefe zu gehen. Das ist es doch, dann kann etwas Gutes entstehen.

Sie sind bei Ihren Projekten immer in die Tiefe gegangen, Zeit hat oft keine Rolle gespielt. Dafür haben Sie nun den Kulturpreis Bayern erhalten.

Und ich freue mich total! Das passt auch so gut in meine Phase, nämlich auf 30 Jahre zurückzublicken und zugleich mit dieser großen Wertschätzung weiterzumachen.

„Walking Distance. Aufnahmen aus fünf Kontinenten und drei Jahrzehnten“ mit einem Text des Philosophen Florian Grosser (Verlag Kettler, 144 Seiten, 39 Euro, zu bestellen unter info@unverzart.de).

Veröffentlicht am: 16.11.2022

Andere Artikel aus der Kategorie