Eine Kurzgeschichte von Maria Levina
Der nackte Schatten
In "Der nackte Schatten" verschwimmen Kunst, Körperwahrnehmung und Begehren. Der Text taucht tief ein in die Köpfe einer malenden Person und ihres Models, wobei die sprunghaften Gedanken ein lebendiges, ungefiltertes Bild eines scheinbar stillen Moments zeichnen: Roh, direkt und überraschend intim.
Von Maria Levina

Ein Moment zwischen Stillstand und innerer Bewegung – der Körper erstarrt, doch die Gedanken fließen. Bild: Maria Levina
Der Schatten ist rundlich, gebogen, scheint fast zu fließen, unten etwas dunkler als oben, das sind mehrere Schichten, eine weiße Stelle,
Mist, das Knie bewegt sich, jetzt ist der Schatten mittig dunkler, wo ist die weiße Stelle hin,
die Miene ist schön weich, wie befriedigend, wo ist der Radiergummi, hier, ein bisschen tupfen, der Form folgen, der Form folgen, oh, neues Lied, das habe ich auch in meiner Playlist,
Sex mit dem Lehrer auf genau diesem Stuhl wäre doch was, er sieht so gut aus… wenn alle weg sind oder alle noch da…
der Schatten ist schon wieder verrutscht, fantastisch, einfach noch eine Schicht, das macht es plastischer, so passt es,
diese verdammte verkürzte Perspektive, der Schatten muss doch anders liegen, das ist alles zu flach und kurz, einmal den Stift hinhalten, um die Abstände abzumessen - ja, so ist es besser, der Oberschenkel ist zu kurz und der Schritt zu groß,
mehr Schatten, mehr Schichten, so sieht es richtig aus - nochmal tupfen, der Bauch ist weich, etwas zusammengedrückt, sie lehnt auf der rechten Seite, das macht es aber leichter,
Ok, Positionswechsel.
Wenn ich noch eine Minute länger so dasitze, falle ich definitiv in Ohnmacht. Mein Rücken ist so steif und schmerzt, das packt doch keiner. Ich muss auf diesen einen Punkt schauen, sonst bewege ich mich. Scheiße, jetzt juckt mein Knie, kann ich es kurz kratzen? Bestimmt verrutsche ich dann. Diese Position war wirklich keine gute Idee. Ah ja, wunderbar, jetzt fängt mein Bein an einzuschlafen. Ich muss an etwas anderes denken. Sex mit dem Lehrer wäre doch was, er sieht unglaublich gut aus. Irgendwie auch befriedigend, dass er die ganze Zeit malt und die anderen Bilder gar nicht korrigiert. Es scheint ihm zu gefallen, mich zu malen. Aber wirklich schön fühle ich mich nicht im Moment, mein Bauch ist so zusammengedrückt und dieses verdammte Bein, ich spüre es kaum noch. Ahhhhhh. Der. Punkt. An. Der. Wand. Wie viel Uhr ist es? Ok, zwei Minuten vergangen. Eigentlich hätte es schon vor fünf Minuten einen Positionswechsel geben sollen, aber nein, der Gute malt und schaut nicht auf die Uhr. Wieso auch. Und ich schwitze auch noch so. Es ist Winter und wirklich nicht warm im Raum und ich, ich tropfe. Was für ein Moment. Wie künstlerisch hahahah.
Ok, Positionswechsel.