Jugendliche müssen draußen bleiben

von kulturvollzug

"Dekonstruktion des Vaters" mit Dorothea Seror. Foto: Tom Gonsior

Nachdenken über Sex: Die Performancereihe „Wilde Tendenzen“ im I-Camp zeigt ausgewählte Choreografien zwischen „porn identity und Nächstenliebe“.

 

Wenn man bedenkt, dass so ziemlich jeder Jugendliche schon jede Menge Schweinkram im Internet gesehen hat, wirkt es kokett bis weltfremd, dass die zweite Ausgabe der Performancereihe „Wilde Tendenzen“ explizit darauf hinweist, nur für Zuschauer über 18 Jahre geeignet zu sein. So steht es auf dem Flyer. Wahrscheinlich ist diese freiwillige Altersbegrenzung mehr Marketingwauwau denn ernst gemeint, aber sie erfüllt natürlich ihren Zweck und macht neugierig: „all about sex“ heißt der Abend im I-Camp, zu sehen gibt es Choreographie, Tanz und Performance im „Spannungsfeld zwischen porn identity und Nächstenliebe“.

"21Megaherz". Foto: Frank Just

Doch bevor es wild wird, wird es erstmal ernst: Hans Jäger, einer der führenden Aids-Experten Deutschlands, hält einen Vortrag und erzählt aus seinem Praxisalltag, zum Beispiel von der 15-jährigen Monika, die an einem Freitagmittag in die Sprechstunde kommt, vor 12 Stunden ungeschützten Sex mit einem flüchtigen Bekannten hatte, und nun befürchtet, sich mit dem HI-Virus angesteckt zu haben. Darf man als Arzt einer Minderjährigen nur auf den Verdacht einer Ansteckung hin und ohne Wissen der Eltern ein Medikament als vorbeugende Maßnahme geben? Und wie wirkt diese Postexpositionsprophylaxe überhaupt? Eigentlich schade, dass keine 15-jährigen anwesend waren, die hätte das wahrscheinlich auch interessiert.

Es folgt der künstlerische Teil des Abends, auf dem Plan stehen vier 15-Minuten-Stücke aus Berlin, München und Essen. „All about Josema“, eine Performance von Alfredo Zinola und Jose Manuel Ortiz aus Essen, hinterfragt ganz ungeniert stereotype Vorurteile: Josema ist Mexikaner, jung und homosexuell, er lässt die Hüften kreisen und das Publikum kreischen. Die Musik stoppt, die TV-Show beginnt, Fragen werden gestellt: Magst Du den Geschmack von Sperma? Rasierst Du Dich? Wie funktioniert ein Blowjob? Josema erzählt, dass er mit über 100 Männern sexuelle Kontakte hatte, demonstriert, wie er sich den Hintern rasiert, und besorgt es einer Wasserflasche. Ein rasanter, provokanter Einstieg, frech und lustig und mehr auch nicht.

„Should I touch you?“ eine Produktion von Katharina Poensgen und Philipp Caspari aus der Tanzfabrik Berlin ist ein „gewaltsames Gedicht“,in sich gekehrt, ernst und beklemmend. Es geht um einen Mann und eine Frau, es geht um ein Paar, es geht um das, was dieses Paar verbindet, und um das, was es trennt: Hand in Hand stehen sie und schauen geradeaus. Er dreht den Kopf. Sie schaut ihn an. Er schaut weg. Er streichelt sich mit ihrer Hand. Sie dreht den Kopf weg. Feinfühlig choreografierte Blicke und genau beobachtete Gesten entwickeln poetische Intensität, zwei Körper erzählen von Liebe, Bedürftigkeit und Missverständnissen.

"All About Josema". Foto: P. Bussmann

Noch ein Mann und noch eine Frau lieben und bekriegen sich in „21 Megaherz“, einer actionreichen Choreographie von Andriana Stecker, Anete Colacioppo und Carsten Wilhelm, ebenfalls aus Berlin angereist. Eine Matratze, ein Plastik-Rehschädel, viel Geschrei, eine Wassermelone – und irgendwo dazwischen geht es um Macht, Gewalt und Kommunikation.

Die Münchner Künstlerin Dorothea Seror steht allein auf der Bühne, spricht kein Wort und verbraucht während ihrer Performance „Dekonstruktion des Vaters“ eine ganze Dose Penatencreme, aber mit Körperpflege hat ihre Hommage an die französische Installationskünstlerin Louise Bourgeois wenig zu tun – sie erforscht patriarchale Systeme: Bis zur Unkenntlichkeit weiß gecremt, nackt bis auf die Unterhose mit Plastikpenis steht sie da und lässt ihn allmächtig schwingen. Geht so Mannsein? Beziehungsweise wie viel Mann steckt in einer Frau und umgekehrt?

Nach „Du fehlst“ von 2009 ist „all about sex“ der zweite Tanzabend, den der Choreograf Manfred Kröll in Zusammenarbeit mit dem Forum für zeitkritische Choreografie und dem Kulturreferat München organisiert und arrangiert hat. „Ein Thema, viele Gedanken“ lautet das Motto der Performancereihe, und obwohl die ausgewählten Stücke formal und inhaltlich recht verschieden sind, kann das engagierte Versprechen den thematischen Bogen von „porn identity“ bis „Nächstenliebe“ spannen zu wollen, nicht gehalten werden. Das Mini-Tanz-Festival im I-Camp ist weder repräsentativ noch richtungweisend, bietet aber genug Stoff, um einen Abend lang über die Bedeutung von Sex im Zeitalter der digitalen Verfügbarkeit nachzudenken. Egal ob volljährig oder nicht.

Barbara Teichelmann

 

Noch am 28. Mai, 20.30 Uhr im I-Camp

Veröffentlicht am: 28.05.2011

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