Sei Stiller!

von Michael Weiser

[caption id="attachment_7453" align="alignright" width="217" caption="Stiller im Knast: Frank Seppeler und Julia Kreusch als Sibylle. Foto: Schauspielhaus Zürich"][/caption]Bei "Radikal Jung" im Breitwandformat in die Melancholie: Heike M. Goetze entfesselt für ihre Adaption von Max Frischs Roman „Stiller“ eine Bilderflut und verpasst letztlich den Aufbau einer zwingenden Geschichte.

Diese Verneinung ist ebenso eine Selbst-Behauptung wie das gegensätzliche „Mein Name sei Gantenbein!“. „Ich bin nicht Stiller“ sagt den Vernehmungsbeamten ein ums andere Mal der Mann, dessen Pass in der Tat auf James Larkin White lautet. Der Leser des großen Romans von Max Frisch schöpft dennoch Verdacht (der sich bald der Gewissheit nähert): Bei Larkin handelt sehr wohl um Anatol Ludwig Stiller, den berühmten Bildhauer. 

[caption id="attachment_7454" align="alignleft" width="97" caption="Wo sind hier die Berührungs- punkte: Stiller (Frank Seppeler) und seine Frau Julika (Ursula Doll). Foto: Schauspielhaus Zürich"][/caption]

Aber warum gibt Stiller es nicht zu? Wehrt er sich gegen die Vereinnahmung, die allein schon mit der Nennung des Namens verbunden ist? Versucht er grad einen Neuanfang, etwa wegen zerrütteter Ehe? Oder übt er sich im Identitäten-wechsel-Dich, frei nach Schillers Motto: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt? 

Wir werden es nie genau wissen, ebenso wenig, warum die Schweizer Grenzer Stiller/White verhaftet haben. Ist er ein Agent, ein flüchtiger SS-Mann? Seine Anklagen an die Adresse der Schweiz allein können es nicht sein, die ihn hinter Gitter gebracht haben, so genau nehmen’s nicht mal die Eidgenossen, die dazu im übrigen zu viel Humor hätten. So weit, so gut, in Heike M. Goetzes Produktion vom Schauspielhaus Zürich. 

Doch bald hat man Mühe, dem Mäandern des Erzählflusses zu folgen. Dieser Großroman bietet mehr Rätsel als Gewissheiten. Man kann ihn als Identitätsfindung lesen, als Gesellschaftskritik, als Bildnis eines Menschen, der vor lauter Flucht vor der Verantwortung auch seine Selbstverwirklichung verpasst – so etwas wie eine Schweizer Version von „Peer Gynt“. Das Problem ist, dass Goetze alles zeigen will. Stiller, der Egoist, Stiller der Identitätensucher, diese unausgereifte Entwurfszeichnung eines Mannsbildes: Gibt alles für sich allein einen Ansatz her, aber über eine Entscheidung würde man sich als Zuschauer freuen. 

[caption id="attachment_7457" align="alignright" width="217" caption="Dieses Gefängnis hat sich Stiller selbst eingerichtet. Foto: Schauspielhaus Zürich "][/caption]

Das Bühnenbild (Bettina Meyer) wirkte in der Reithalle fast unbespielbar groß: Im Hintergrund eine zusammenmontierte Schweizer Bilderbuchberglandschaft, in der oberen Ebene Quai-Atmosphäre mit Sitzbänken und Trottoirlaternen, im Zentrum der Betonraum der Zelle, unten eine muffig eingerichtete Hotellounge. Darin agiert ein bewegliches, teilweise starkes Ensemble, mit einem furiosen Frank Seppeler als Stiller an der Spitze. Doch all die Bewegung verpufft im großen Allerlei der Bühnenlandschaft. In der Zelle war die Inszenierung der lakonischen Stiller-Geschichte am nächsten: Ein Haftraum von konsequenter Strenge, für Stiller zu erreichen über eine Fluchtluke. Er ist, man ahnt es, lebenslang gefangen, und zwar in sich selbst. Da bescheren auch Alkohol, seine Affären und seine Ehe mit Julika (ätherisch und spröde zugleich Ursula Doll) im besten Fall einen Freigang und im schlimmeren Fall Strafverschärfung. 

Dabei hätte man es bewenden lassen können. Stattdessen kam noch mehr: Langsames Sterben Julikas, Maskenreigen, Umbau auf der offenen Bühne, Verspinnwebung der alternden Schauspieler, Videoinstallationen und ein an sich großartiger Song Stillers drängten sich in die letzte halbe Stunde, als sei der Epilog als ein Schaufenster der Theatertechniken gedacht. Wo will sie hin, die Geschichte? Am zähen Ende fiebert man fast schon mit den Schweizer Justizorganen: Gesteh’s doch endlich, sei ganz du - sei Stiller! 

Das Festival "Radikal Jung" im Volkstheatergeht noch bis Samstag, 16. April. Es stehen auf dem Programm -  heute, Dienstag, 19.30 Uhr: Verrücktes Blut, Ballhaus Naunynstraße Berlin, Regie: Nurkan Erpulat  20 Uhr: Das fünfte Imperium, Volkstheater, Regie: Mareike Mikat - 22 Uhr: Party; Mittwoch, 13. April festivalfrei; Donnerstag, 14. April:  18.30 Uhr Life: Reset, Théàtre National Brüssel, Regie: Fabrice Murgia; 19:30 Uhr: Fatherland, Gate Theatre London, Regie: Caroline Steinbeis; 21 Uhr: Life : Reset. Weitere Termine unter www.muenchner-volkstheater.de 

Veröffentlicht am: 12.04.2011

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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