Die Ainmillerstraße in Schwabing: Ein kleines "ü" und lauter große Namen
Der Stadtgänger staunt nicht schlecht, als er bei seinem Gang durch die Schwabinger Ainmillerstraße vor dem Haus mit der Nummer 17 stehen bleibt und ein "ü" entdeckt, wo ein "i" hingehört. Dabei fällt ihm ein, dass er etwas erzählen könnte über einen bemerkenswerten Straßenzug.
Richard Grothe weiß es auch nicht. Ihm gehört das Mietshaus, an dem rechts über dem Eingang das emaillierte blaue Hausschild mit der Nummer 17 und dem Zusatz "Ainmüller-Str." angebracht ist. Anfang des 20. Jahrhunderts sei das Haus von seinen Großeltern gekauft worden, erzählt er. Das Hausschild wurde halt nie geändert, hat Krieg und Renovierungen fast schadlos überstanden und ist in der ganzen Straße allein geblieben mit dieser Beschriftung.
Die Schwabinger Ainmillerstraße führt von der Leopoldstraße Richtung Westen zur Kurfürstenstraße hin. Um 1888 herum wurde sie nach Max Emanuel Ainmiller (1807-1870) benannt, dem bedeutenden Landschafts- und Glasmaler, dem es als erstem gelungen war, farbiges Glas farbig zu überfangen, eine für die Glasmalerei revolutionäre Technik, ein einheitliches Stück Glas mit unterschiedlichen Farben zu versehen. Beim Widmungsakt der Straße soll seine hoch betagte Witwe dabei gewesen sein, die aber auch nichts bemerkt hat. Denn dass die Straße tatsächlich einmal "Ainmüllerstraße" hieß, ergibt sich aus einem Stadtplan um 1895 (Gernot Bauer, München Schwabing-Ein Zustand, Seite 47, München Verlag 2010). Ob es sich um einen karthografischen Fehler handelte oder ob es der damaligen Schreibweise entsprach, ist heute nicht mehreindeutig aufklärbar.
Die Nr. 17 gehörte zu einem Ensemble von drei nebeneinander errichteten Mietshäusern, die der Architekt Fritz Schönmann in neubarockem Stil entworfen und erbaut hatte, reich mit Absetzungen und Stukkaturen versehen. Nur die Nr. 13 ist in ihrem ursprünglichen Zustand weitgehend erhalten. Die Nr. 15 wurde bei den Bombardements 1944 zerstört. Dort wurde ein typischer Nachkriegsbau hochgezogen, der aktuell nach Entmietung eine Luxussanierung erfährt. Die Nr. 17 erlitt Schäden am Dach- und Obergeschoss und konnte wegen der nach Kriegsende von der Stadt München eingeführten Höhenbegrenzung nicht mehr in den ursprünglichen Zustand versetzt werden. Die Parallelen zum Haus mit der Nr. 13 sind an den Absetzungen, den Plazierungen der Balkone und den Stukkaturen weiterhin sichtbar. Und das Hausschild Nr. 17 hat überlebt.
Neu und alt nebeneinander
Dass der ganze Straßenzug bei den Bombenangriffen des 2. Weltkriegs stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, zeigt sich vor allem im oberen Teil zwischen Leopold- und Wilhelmstraße. Nur die Nummer 7 ist in ihrem ursprünglichen Zustand weitgehend erhalten geblieben und später sehr sorgsam restauriert und modernisiert worden. Ansonsten stehen dort Nachkriegsbauten. Gleich zu Beginn an der Ecke zur Leopoldstraße im Keller des Gebäudes, in dem auch der Optiker mit seinen satirischen Schaufensterdekorationen sitzt, existiert bereits seit den 1950er Jahren der Club "ba ba lu", der fast unverändert geblieben ist. Prägend die Nummer 5, der massige Appartementkasten einer Augsburger Erbengemeinschaft, der wegen seiner zumeist studentischen Mieter und der verschrobenen Fantasie der bürgerlichen Nachbarschaft sehr schnell den Spitznamen "Stoßburg" weg hatte. Im Neubau gegenüber residiert heute die RTL-Gruppe. Daneben im Keller die kuriose Rock- und Oldie-Disko "Crash", die bis etwa 22 Uhr von Teenies bevölkert wird und danach bis vier Uhr morgens von Älteren, die da früher schon abgehangen sind.
Sehr breit hat sich der Beckverlag gemacht, dessen gewaltiger Gebäudekomplex sich fast von der Hohenzollenstraße über die Wilhelmstraße und dann entlang der Ainmillerstraße zur Friedrichstraße erstreckt. Fast erdrückt der mächtige Bau die Nummer 20, ein um 1900 von Eugen Hönig und Karl Söldner entworfener Jugendstilbau mit reichen Stukkaturen, der heute dringend eine Sanierung vertragen könnte. Gleich daneben die berühmte Nummer 22: ein viergeschossiges Mietshaus im Jugendstil mit Zwerchhaus, das eine reich gegliederte, polychrome Fassade mit zahlreichen figürlichen Dekorationen auszeichnet, 1898 von Felix Schmidt nach einem Fassadenentwurf von Henry Helbig und Ernst Haiger geplant und gebaut. Ein geschützes Kulturgut, das ständiger Anlaufpunkt der Stadttouren ist. Jenseits der Friedrichstraße zur Kurfürstenstraße hin wird es architektonisch ruhiger. Erwähnenswert der Neubau der Swiss Re (Nr. 28), der sich mit hellem, modernem Gepräge harmonisch in das Bild der Straße einfügt. Erhalten auch die Nummer 44, ein mächtiger grauer Bau an der Ecke zur Römerstraße. Seltsam das Mietshaus Nr. 43, dessen in die Fassade eingelassenen spitzen Erker mit Stahlhelm-Köpfen bewehrt sind. Zwar finden sich in der Ornamentik der Fassaden in der Straße immer wieder Köpfe, Gesichter, denen erkennbar eine symbolische Schutzfunktion für die Bewohner zukommt. Die Soldatenköpfe weichen ab - nicht unbedingt positiv.
Viele große Namen: Kandinsky, Münter, Rilke
Es gibt kaum eine Straße in München, mit der sich so prominente Orte, vor allem aber so viele große Namen verbinden, wie die Ainmillerstraße. Schon kurz nach der Eingemeindung der einst eigenständigen Stadt Schwabing nach München im Jahr 1890 - viele Schwabinger sehen das bis heute nicht ein - entdeckte die künstlerische und intellektuelle Avangarde das Viertel, das sehr bald den in bürgerlichen Kreisen zweifelhaften Ruf der Bohéme-Hochburg bekam. Bewohner der Ainmillerstraße hatte daran erheblichen Anteil.
Das - heute nicht mehr existierende - Gartenhaus der Nummer 36 war Keimzelle des "Blauen Reiter" und erlebte überdies von 1908 bis 1914 ein gschlampertes Verhältnis. Dort lebten die Maler Wassily Kandinsky und Gabriele Münter zusammen. Die beiden hatten sich 1902 in der Kunstschule "Phalanx" kennengelernt, in der Kandinsky als Lehrer arbeitete. Es kam, wie es kommt. Im Sommer 1903 verlobten sie sich, obwohl er bis 1911 noch verheiratet war. Ab 1908 lebten sie in der Ainmillerstraße ganz offen zusammen.Ein in der damaligen Zeit unerhörter Vorgang. Schwabinger Sumpf in den Augen des Bürgertums. In die Zeit fiel die Zusammenarbeit mit dem Künstlerpaar Marianne von Werfeking und Alexej Jawlensky in Murnau am Staffelsee. Der Neue Künstlerverein München entstand, an dem sich Kandinsky und Münter zunächst nicht beteilgt hatten, deren Vorsitzender Kandinsky dann aber wurde. Bereits 1909 kaufte Münter das heute im Volksmund noch so genannte "Russenhaus" in Murnau - bis 1914 ein sommerliches Kreativzentrum, in dem Franz Marc, August Macke oder der Komponist Arnold Schönberg ein und aus gingen - man kennt das ja, mit den Freunden und dem Haus am Land. Dort, vor allem aber im Gartenhaus in der Ainmillerstraße entstand der Gedanke, sich vom Neuen Künstlerverein München, in dem es zunehmend zu Unstimmigkeiten wegen der immer abstrakter werdenenden Malerei Kandinsky kam, zu trennen und etwas eigenes auf die Beine zu stellen. Kandinsky konnte Franz Marc zum Mitmachen bewegen, beide führten gemeinsam die Redaktion des Buches "Der Blaue Reiter". Am 18. Dezember 1911 wurde die erste Ausstellung der Redaktion Blauer Reiter in der Modernen Galerie Thannhauser in München eröffnet. Spannende Zeiten in der Ainmillerstraße. Zu Beginn des ersten Weltkriegs verließen Kandinsky und Münter München.
Nebenan, im Haus Ainmillerstraße 36, lebte 1918/19 der Lyriker Rainer Maria Rilke - ein Jahr großer Depression und Schaffenskrise. Er war Anfang 1916 zum österreichischen Heer eingezogen worden und musste eine militärische Grundausbildung durchlaufen. Zwar wurde er schon im Juni 1916 wieder aus dem Militärdienst entlassen, aber die Erfahrungen hatten ihn derart traumatisiert, dass der als Dichter praktisch verstummte. Ein Jahr schleppte er sich durch die Ainmillerstraße, bevor er im Juni 1919 in die Schweiz übersiedelte. In der Nummer 36 spukt er angeblich bis heute. Ältere Hausbewohner erzählen das augenzwinkernd.
Im Haus Nummer 30 lebte von 1952 an bis zu einem Tod im Jahr 1965 der deutsch-russische Soziologe, Philosoph und Schriftsteller Fedor Stepun, der sich wesentlich um die Vermittlung russischer Kultur in Deutschland verdient gemacht hat und von 1949 bis 1964 an einem eigens eingerichteten Lehrstuhl an der Ludwig Maximilians Universität russische Geistesgeschichte lehrte.
Das "Fotografenhaus"
Gleich mehrfach prominent besetzt war das heute gelbe Haus an der Ecke Friedrichstraße gegenüber dem Habsburgerplatz. Ein normales Mietshaus eigentlich. 1944 bis auf das Hochparterre zerbombt, darauf wurde wieder aufgebaut. Die Nummer 26 war das "Fotografenhaus". Herbert List, der unter anderem die Zerstörungen Münchens nach dem 2. Weltkrieg im Bild dokumentierte, hat dort gewohnt. Stefan Moses, der großartige Portraitist der Menschen in Ost und West, ebenso. Und oben unter dem Dach betrieb Marion Schweitzer von Anfang der 1950er Jahre bis Ende der 90er ihre berühmte Photo-Agentur. In 1 1/2 Zimmern stapelten sich in Regalen und Kisten rund 500000 analoge Bildern, Prints und Dias, Klassiker darunter - thematisch in Versandtaschen geordnet. Als Allein-Vertretung einer großen Londoner Pressebild-Agentur brachte sie die Welt der Schönen und Reichen nach München. Sie hatte alles: die Beatles hinter der Bühne, Burt Reynolds nackt auf dem Fell, das britische Königshaus und Lady Di in allen Variationen. "Es war schon etwas chaotisch", erinnert sich Ulrike Jacobs, langjährige Mitarbeiterin der Agentur. EDV gab es bis zum Schluss nicht. Rechnungen und Lieferscheine wurden auf der Schreibmaschine geschrieben, Bilderanforderungen per Post verschickt. "Wir wussten immer, wo wir das, was die Kunden suchten, finden. Die Tüten waren thematisch geordnet, wenn wer gestorben war, kam er auf den 'Friedhof', eine besondere Abteilung in den Regalen. Und wenn Angela Rösler von der AZ anrief und dringend etwas brauchte, ging das halt per Taxi oder Kurier in die Sendlinger Straße", erzählt Ulrike Jacobs. Und mittendrin saß Marion Schweitzer, durch ihre Polio-Erkrankung schwer behindert, Kette rauchend und mit einer Vorliebe für Foxterrier, die Namen wie "Bignet" oder "Biscotti" trugen. Ein illustrer Freundeskreis, dem Stefan Moses, Herbert List, Max Scheler, Roger Fritz und Bele Bachem, aber auch Deters Grentz, einer der ersten niedergelassenen Ärzte in München, die sich auf die Behandlung von HIV-Kranken spezialiert hatten, angehörten, kam regelmäßig zu legendären Treffen in der Wohnung oder auch auf dem Landsitz der engagierten Bilder-Händlerin und überzeugten Schwabingerin zusammen. Marion Schweitzer starb im Sommer 2004 im Alter von 82 Jahren.
Und heute?
Teile des alten Kopfsteinpflasters sind noch erhalten. Die Stadt hat es halt nie richten lassen. Wäre eigentlich auch schade. Viele Büros gibt es dort. Überwiegend gehobenes, akademisches, geldiges Publikum wohnt heute in der Ainmillerstraße. Erich Koch, der Doyen der Münchner Bildhauer, lebt und arbeitet in einem versteckten Hinterhaus in der Ainmillerstraße (hier unser Bericht dazu), der Regisseur Helmut Dietl residiert in einem großzügigen Altbau. Auch ein bekannter Münchner Zeitungsverleger lebt in der Straße. Und alle kommen sie irgendwann zusammen in Arnold Zöhrers Weinladen in dem Haus mit dem seltsamen Schild Nummer 17, trinken ein, zwei Gläser, reden, philosphieren, lachen, schweigen zuweilen auch bered. Manchmal bringt Frau Koch eine Portion ihrer selbstgemachte Chilli-Fleischpflanzerl mit. Kunstwerke wie die Skulpturen ihres Mannes. Ein gelebtes Stück Schwabing.