"Tango Transit" in der Seidl-Villa: Tango rocks, Gänsehaut!
Neben dem Blues müsste der Tango eigentlich gleichberechtigt dastehen als essentielle, eigenständige Musikentdeckung des 20. Jahrhunderts. Wie mit dem Blues entstehen mit dem Tango neue Formen, Crossovers, Cluster, Fusions. Aber ein Unterschied ist zentral: Der Blues kommt vom Work Song und der Tango ist Tanz, auch als Tango Nuevo oder Jazz Tango. „Tango Transit“ mit Martin Wagner (Akkordeon), Hanns Höhn (Kontrabass) und Andreas Neubauer (Schlagzeug), zeigte in der Seidl-Villa hinreißend, wie bindungsfähig an verschiedenste andere Stile anderer Regionen diese Musik ist.
Die drei spielten alles Mögliche mit einem absoluten Tango-Feeling. Kurz gesagt, sie hatten den Tango. Und den hat bekannter Weise nicht jeder, der nur Tango spielt.
Eine gute Portion Cajun-Muddy Water aus den Everglades schwappte beim ersten Song auf die Bühne. „Busy Waiting“ kam funky, scharf und fett wie eine feine Alligator-Suppe auf den Tisch des eher dezenten Hauses. Für den funky Groove sorgten alle, wie sie sich überhaupt den ganzen Abend alle drei auf Augenhöhe einer Erstklassigkeit befanden, und Andreas Neubauer zeigte im ersten Schlagzeugsolo, dass er seinen Steve Gadd intus hat. Tolle Sache, aber wo war der Tango, der Schmerz, die Ekstase, die Arroganz, mag mancher (auch der Kritiker) sich gedacht haben? Aber das Verständnis sollte sich schnell einstellen, man spielte eben die Stücke, alles Kompositionen von Martin Wagner „mit Tango“. Natürlich tauchte man in verwandte Volksmusiken ein, wo auch das Akkordeon eine tragende Rolle spielt. Wie eben schon erwähnt galt das für Cajun, aber natürlich auch für Polka und Vals (Walzer) des Balkan, weniger vielleicht für Musette.
Jetzt kam Suite Part I+II und erfüllte die Tangoerwartungen voll. Der lyrisch klagend gestrichene hohe Ton eines Piazolla-Bandoneons scheint zwar weniger die Sache von Martin Wagner zu sein, aber es wäre wohl auch falsch mit dem Akkordeon ein Bandoneon imitieren zu wollen. Zudem, ein musikalischer Feuerkopf wie er muss über die Genregrenze. Das Fremde nachhause holend und umgekehrt. Schmuggler, Botschafter.
Zu Beginn von der Suite stieg die Melodie auf mit leichter Ironie in einer schlagerartig dunklen Gasse. Aber man drehte sich nicht um, denn schon rannte sie wieder herab in einer modernen Alteration und landete im Plantschbecken eines Jimmy-Smith-Riffs. In Stücken wie „Zeitauge“ geht das bis zur modalen Dekonstruktion, man rennt sich sogar in Free-Jazz-Gestrüpp fest. Dann: der ganze aufgehäufte, reich verzierte Tand fällt mit einem Mal in ein Luftloch. Da ist er, der Tangobreak. Nach einer atemlosen Sekunde mitten in den zersplitterten Tonscherben, brechen sie los, die Schläge des Tangos. Keinen Widerspruch duldend, herrschend, in Besitz nehmend. Tango rocks, Gänsehaut. Immer gleich und immer einen elektrischen Schauer über den Rücken jagend. Weil unausweichlich.
„Tango Transit“ ist der spannendste Grenzübergang der letzten Zeit.
Aktuelle CD: "Blut"