Micro Oper München: "Man kann nie wissen" – absurd reales Musiktheater über die Angst
Die Lebensversicherung, im Todesfalle oder bei Erleben ist wahrscheinlich der Urgrund des Assekuranzwesens, wobei man grundsätzlich überlegen kann, ob Lebens- oder Todesgefahr versichert wird. Auf dem Spitzenplatz des Best Sellers sitzt der Handlungsreisende Angst. Gewiss ist der Tod, also lässt sich nichts besser versichern als das Leben. Die Micro Oper München spielte im Schwere Reiter in der Dachauerstraße ein surreales Capriccio rund herum um die Angst und den Ort ihren Vollzuges, das Büro.
Der Begriff der Gewissheit, spekulierte einmal Martin Heidegger, sei durch die Gewissheit des Todes in die Sprache gekommen. Perfektion erscheint in dem Anspruch der Absolutheit selbst ein Abbild des Todes. Perfekt wie der Tod. Perfektion wird auch gefordert von der singenden Aquisiteuse Cornelia Melian in „Man kann nie wissen“ (Neues Musiktheater, Komposition: Ernst Bechert, Lyrik: Harry Kienzler). Es beginnt im Dunklen. Nie verkehrt, mit etwas dem Stückende Verwandten zu beginnen. Wie elektrische Glühwürmchen schimmern die LED- und Stand By-Anzeigen der Kommunikationsinstrumente. Es piepst, gluckst und gluckert. Brutreflex auslösende Signale der IT-Welt, Tamagotchi-Laute der Kommunikation.
Blutbad zwischen Akten: „Man kann ja nie wissen“ ist absurdes Musiktheater über die Mechanismen der Angst, Foto: Regine Heiland
Dann helle Bühne. Das Büro, gestaltet im Echtdesign. Aktenregale, Metallschreibtische, Tastaturen, Drehstühle. Die ungeschönte Eins-zu-Eins-Übernahme einer Standard-Büroeinrichtung auf der Bühne des Theaters gewährleistet Surrealität im Sinne des Magritte´schen Ausspruchs: "Ceci n´est pas un Bureau" könnte über diesem Bühnenbild stehen. Links, an Sampler und Keyboards, sitzt Komponist Ernst Bechert. Von ihm kommen die Anforderungskommandos: CPO muss erstellt werden, weil morgen Kick Off ansteht. Ah so. Ebenso steht noch eine Präsentation WMW (Wir Müssen Wachsen) aus. Da sitzt er also, der CEO, der Chief Executive Officer.
Cornelia Melian beginnt gut eingestellt mit wahrhaft Positive Singing. Im feinen Business-Hosenanzug, mit erotischem Präsentationselan besingt sie soubrettenhaft überkandidelt die Vorzüge der Angst. „Schöpfen Sie pures Leben, es kommt aus purer Angst.“ Was kann im Leben nicht alles passieren! Grins! Hüftschwung am Flip Chart. Zum Beispiel, ein Ei! Ein rohes Ei, das auf den Boden fällt! Kicher! Das muss eigentlich gar nicht so sein. Erst eins, dann zwei, das zerplatzt ja alles am Boden, das Ei! Gacker! Ceci n´est pas un Bureau. Der CEO greint nach seinem CPO. Zunehmend absurde, geometrische Hektik. Gezirkelte Effektivitätschrittchen durch die Gassen zwischen den Akten.
Störenfried Anton Kaun taucht jetzt immer öfter auf. Ein feliner Trickster, Bürobote mit Kontakt zur Wildnis und langem, eleganten Raubkatzenschwanz. Bei aller Gemessenheit sorgt er für gehöriges Durcheinander, was sich musikalisch niederschlägt, aber auch trotzig konterkariert wird, etwa in einem Panikattacken-Tango. Dabei konfrontiert dieser wilde Bürobote das Büro der Todessicherheit nur mit Versicherungsfällen. Allerdings nicht in Form von Akten, sondern mit beispielhafter Wirklichkeit. Keuchen, Husten, Siechtum, Einbruch von Wasser, Krieg – all das wird stoisch serviert in einer roten Pandora-Schuhschachtel. Ein Blick hinein genügt: Feine Choreographien (Katrin Dollinger, Regie, Dramaturgie, Produktion) entfalten sich in der Luftlosigkeit des chaotischen Ausbruchs. Thomas Simmerl (Perkussion) zelebriert im gesamten Raum, überall, am Heizkörper, Lüfter, und auf riesigen Trommeln eine festliche Untergangsrhythmik. Teilnahmslos. Unabweisbar wie ein Verwaltungsakt. Gedroschene Metallschubladen springen auf und spucken Viszerales aus. Mathis Mayr (Cello) durchmisst im Stechschritt, das Cello spielend, die sich anbahnende Orgie.
Dann auf kurz, und mit einem gewaltigen Pauken-Donnerschlag verflüchtigt sich die Vision, der Alb, das Menetekel. Cornelia Melian liegt in Trümmern in einem Regalfach. Aktendeckel fügen sich zu Scheiterhaufen. Die Stille jetzt, klassisch am Punkt der Peripetie, ist das Bett für den musikalischen Höhepunkt. „Es wird immer später“, „Ich bin müde“ (nach Lyrik von Harry Kienzler: „Ich liebe meine Angst“). Wo ließe sich das Einfache besser platzieren als in der Stille nach der Schlacht? Cornelia Melian singt jetzt ohne jeden Druck leicht und weit, resigniert und rein.
Wunderbar konsequent der Schluss, wie er kommen muss! Das Büro schmilzt förmlich zusammen unter den Noise-Attacken des bärbeissigen Büroboten. Entbürokratisierung kann man sich nicht orgiastischer vorstellen. Cornelia Melian kriecht, ein Regal auf ihren Rücken gekippt aus diesem Bild. Irgendwie sind noch zwei überdimensionale Augenkugeln aus Papier auf die Bühne geraten. Wie ein Golgahta von Duchamps.
München hat ein großartiges Neues Musiktheater. Die Micro Oper München.