John Cale im Freiheiz

Fönwarme Schönheit und weg mit der Vergangenheit - Er gewinnt das Münchner Publikum

von Michael Grill

John Cale. Foto: PGM GmbH

Er ist der Mann, der meist alle Erwartungen enttäuscht, um dann das, was übrigbleibt besonders gut zu befriedigen. John Cale, der in den 60ern mit Velvet Underground (VU) den artifiziellen Krach in der Rockmusik erfand, später für den kleinen Popsong die Abgründigkeit neu definierte und seitdem immer nur noch unberechenbarer geworden ist, spielte im gut gefüllten Freiheiz. Danach wusste man, wie souverän eine Musik klingen kann, die nichts mehr glauben, provozieren oder beweisen muss.

Drahtig-federnd kommt der grau-blonde 70-Jährige auf die Bühne, einen jugendlichen Spitzbart am Kinn und ein ihm ergebenes Band-Trio im Gefolge, lächelnd den warmen Applaus eines Publikums aus Alt-68ern und halbalten Intellektuellen zur Kenntnis nehmend. Langsam steigert er sich in eine Zehn-Minuten-Version des Psycho-Songs "Captain Hook" von 1979 hinein: "I lost my memory today..." - so ging das schon mal los.

Anschließend bleibt Cale aber überwiegend bei neuerem und neuestem Material, was er mit der (insgesamt nahezu einzigen) Ansage intoniert, man solle sich "jetzt mal gut anschnallen". Da erstaunlicherweise niemand im Saal auf "Greatest Hits" zu warten scheint, bleibt man sich aber gewogen. Es ist sogar so, dass von Song zu Song die Begeisterung wächst über Cales Kunst, einfach und komplex zugleich zu sein, im klassischen Format immer wieder Neues zu entdecken und den Underground dabei ganz lässig auch noch mitzunehmen.

In "Perfection" verstecken sich dann doch wieder ein paar schöne VU-Dissonanzen in Cales hämmerndem Tastenspiel, das einzige, was eine Linie in die ganz tiefe Vergangenheit zieht. Bei "Praetorian Underground" wagt er sich sogar in zwei kleine Soli hinein - ansonsten lässt er die Buben von der Band die Arbeit machen. Insbesondere Joey Maramba am Bass ist der kleine Star hinter dem großen Cale am Piano, ein Virtuose mit bis zur Kenntlichkeit verzerrtem Sound, der trotzdem die Grundfunktion seines Instruments nicht vernachlässigt. Der Fast-Klassiker "Helen Of Troy" von 1975 wird zum ersten ganz großen Höhepunkt des Abends, abschließend ein rockendes "The Hanging" und ein finsteres "Nookie Wood" - sehr freundlich tosender Applaus.

Publikum und Künstler verstanden sich blendend - was auf Cales aktueller Tour, wie berichtet wird, angesichts der wieder mal störisch-unpopulären Songauswahl nicht immer so war und zu einer gewissen Kälte auf beiden Seiten führte. Hier aber brillierte ein fönwarmer Cale im alten Heizkraftwerk. Der Meister dankte mit einem halbstündigen Mix aus "Gun" und "Pablo Picasso" - und da war sie dann doch noch: die Schönheit der Kakophonie.

Veröffentlicht am: 21.10.2012

Über den Autor

Michael Grill

Redakteur, Gründer

Michael Grill ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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