Karl Stankiewitz über den Aufbruch im Münchner Kunstmarkt vor 50 Jahren

Avantgarde im Kaufhaus, Abfall in der Galerie

von Karl Stankiewitz

Heiner und Six Friedrich, um 1960. Foto: Friedrich/privat

Im sechsten und im siebten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erlebte München ein geradezu goldenes Zeitalter. Die olympische Sonne strahlte, lange schon vor den Sommerspielen von 1972, über diese Stadt. Auch hatten die ab 1962 bei den „Schwabinger Krawallen“ erkennbaren gesellschaftlichen Umbrüche deutliche Nachwirkungen auf vielen Gebieten, nicht zuletzt in der Kunstszene. Plötzlich wagten Maler, Bildhauer und andere Kunstmacher erneut, wie 70 Jahre zuvor, einen Ausbruch aus dem allzu lange Gewohnten. Karl Stankiewitz erinnert sich.

 

Bislang unbekannte Galeristen und Museumsleiter traten, unterstützt von fortschrittlichen Kritikern, als Vermittler und Verwalter einer neuen Kunst ans Licht – und manchmal auch in das von Bewahrern bereit gestellte Fettnäpfchen. Fast bewahrheitete sich noch einmal das Wort von Thomas Mann, das seine Wahlheimatstadt oft bedenkenlos zur Werbung nutzte: „München leuchtete“. An einige der damaligen Kunst-Pioniere erinnere ich mich gern, zum Beispiel die Folgenden.

Über der Rolltreppe prangten die obligaten Ölschinken, für die der Begriff Kitsch (der ja doch etwas Liebenswürdiges meint) noch zu schön gewesen wäre: Alpenglühen und Meeresrauschen, röhrende Hirsche und weidende Lämmer. Betrat man jedoch die Möbelabteilung im vierten Stock, dann gewahrte man zwischen sachlichen Schrankwänden und Schnörkelkommoden die kühnen Bildzeichen der Avantgarde. Ein schockierender Kontrast, ein gewagtes Experiment: Kunst im Kaufhaus.

Die jungen, ambitionierten Galeristen Heiner Friedrich, seine Frau Six und deren Freund Franz Dahlem wagten 1964 - vor 50 Jahren - diesen Sprung aus dem Elfenbeinturm. Sie fanden einen Partner, der fürs erste den kommerziellen Aspekt hintanzustellen bereit war: die Münchner Filiale des Versandhauses Neckermann, dessen Chef selbst moderne Kunst sammelte. Für kurze Zeit durfte die Galerie 50 ihrer Gemälde zwischen die Mustermöbel hängen. Die Preise lagen zwischen 40 und 2400 Mark. Die Auswahl, sagte mir Dahlem, sei keine „mittlere Ware“, sondern „dernier cri“ auf dem Kunstmarkt.

Da hing beispielsweise, zwischen „Altmünchner“ Strohgeflechten, eines der vitalen Gemälde von Horst Antes, der mit seinen 27 Jahren schon fünf Kunstpreise verliehen bekommen hatte. Auch die älteren Kunstpioniere Hans Arp und H.A.P. Grieshaber waren mit Lithografien dabei. Über einer gemütlichen Couchecke explodierten die Farben des 20-jährigen Tübinger Philosophie-Studenten und autodidaktischen Malers Uwe Lausen, der im Zusammenhang mit den Prozessen gegen die „Gruppe Spur“ wegen Gotteslästerung und Pornografie verurteilt worden war. Sein „Brief eines Zurückgebliebenen“ war der eigentliche Anlass für die Strafverfolgung der ganzen Künstlerkommune, und nicht etwa Lausens revolutionäre Parole: „Wir müssen die Schläfrigen aus dem Schlaf rütteln und die Toten begraben, wir müssen anfangen.“

Angefangen hatten die Eheleute Friedrich und Freund Dahlem, die sich auf einer Faschingsparty kennengelernt hatten, im Juli 1962, indem sie in der Maximilianstraße 15 im ersten Stock, größtenteils aus eigenen Mitteln und eigenhändig, eine Galerie einrichteten. Die ersten Ausstellungen verschlugen dem vornehmen Kunst-Stammpublikum und einigen Kritikern den Atem. Ihr Programm nannten sie, im damaligen Sprachgebrauch, „nonkonformistisch“. Sie wollten ein junges Kunstpublikum und so eine neue Käuferschicht heranziehen. Fördernd wirkte der Kunstkritiker Wolfgang Christlieb von der Abendzeitung, der sich auch als Sonntagsmaler und Autor eines ironischen König-Ludwig-Stücks einen Namen gemacht hatte. Auch ich wurde Stammbesucher und hatte öfter Originelles aus der Maximilianstraße zu berichten.

Bald machten die Neuen, was die angestammten Galerien und die Museen sowieso versäumt hatten, einen Joseph Beuys in München bekannt, zugleich auch die Amerikaner wie Walter De Maria, der eine ganze Etage mit Erde füllte, sowie Cy Twombly, der vier Wochen bei den Friedrichs wohnte. Danach engagierte  sich Heiner Friedrich sehr für Kunst am Bau auf den Olympiaareal. Doch seine Vorschläge, die sich auf Entwürfe von Gerhard Richter, Andy Warhol, Dan Flavin, Palermo und anderen später hoch renommierten Künstlern stützten, wurden von den Machern in München rundweg abgelehnt. Walter de Marias “Olympic Mountain Sculpture“ wurde sogar zum Politikum. Deshalb zog es der Avantgardist Heiner Friedrich vor, seine Pionierarbeit in Köln fortzusetzen und dann in New York. Dort eröffnete er eine Galerie, im internationalen Kunsthandel reüssierte, 1973 die Dia Art Foundation gründete und unter anderem ein großes Stück Land in New Mexico zur Verwirklichung von Walter De Marias „Lightning Field“ erwarb.

2002 kehrte Heiner Friedrich nach Deutschland zurück. In der ehemaligen Kleinautofabrik seines Vaters in Traunreut im Chiemgau, wo heute noch der „Spatz“ aus Kunststoff wie ein Denkmal dasteht, gründete Friedrich ein Museum und gab ihm den anspruchsvollen Namen DASMAXIMUM KunstGegenwart. Tatsächlich präsentieren die bunten, lichten Werkshallen auf gut 3000 Quadratmetern Spitzenwerke von Gegenwartskünstlern, vier deutschen und vier amerikanischen. Außer den schon in München und Köln betreuten Georg Baselitz, John Chamberlain, Walter De Maria, Dan Flavin, Imi Knoebel, Uwe Lausen und Andy Warhol ist Maria Zerres hervorragend vertreten. Allein 36 Bilder sind von Uwe Lausen, der sich 1970 das Leben genommen hat, und der heute zur Elite der deutschen Nachkriegskunst gezählt wird.

Wie HA Schult die vermüllte Umwelt zur Kunst umfunktionierte

Am Abend des 16. Oktober 1970 startete ein Mann, der seinen Beruf als „Macher“ ausgab und seinen Namen als HA Schult, von einer Rampe an der Feldherrnhalle aus zu einer Aktion, die West- und Ostdeutschland mit Tausenden von Menschen einbeziehen sollte, aber auch Film, Fernsehen und Kunstinstitutionen. Zwanzig Tage lang fuhr er in einem blutorangefarbenen Auto, ständig begleitet von einem Kamerateam, rund 20.000 Kilometer weit, um den permanenten Veränderungsprozess am Fahrzeug und an sich selbst sowie die Reaktionen der Leute, denen er zufällig begegnete, zu beobachten und genau zu registrieren.

Die Idee war dem aus Mecklenburg stammenden Münchner Macher auf der Autobahn gekommen, als er das Verkleben der Windschutzscheibe durch Insekten als „ästhetisches Ereignis“ wahrnahm. Vorher schon hatte er sich durch biokinetische Arbeiten sowie durch allerlei Aktionen einen Namen gemacht. So brachte er erstmals Kunst auf die Straße, nämlich an einer U-Bahn-Baugrube. So füllte er die Schwabinger Schackstraße mit Altpapier, Fußabstreifern und sonstigem Alltags-Abfall – und musste 300 Mark Strafe zahlen wegen groben Unfugs.

Nachdem ich damals über das neue „Schult-Bewusstsein“ im Sinne von Umweltbewusstsein berichtet hatte, besuchte mich der Macher mit seiner Muse, der immer knallbunt geschminkten Elke Koska, und schenkte mir eines seiner kleineren Werke: ein buntes, ziemlich zergequetschtes Spielzeugauto. Seither verfolgte ich die meisten seiner Kunstaktionen, über die er mich jeweils penibel in Kenntnis setzt. Sie erstreckten sich bald bis New York, wo er nach 27 Münchner Jahren lebte; sie machten Furore von Argentinien bis Zypern, von Moskau bis Shanghai.

Am Anfang aber spazierte der meist in schwarze Seide gehüllte Hans-Jürgen Schult mit seiner Elke, nur so für sich, hin durch Münchens Straßen, Parks und Tiefgaragen, manchmal auch durch Privatgärten. Einmal leerten die beiden den Mülleimer von Franz Beckenbauer und stellten den Inhalt in der Lenbachvilla aus. Aber auch ein Plastiksack voller verwelkter Blätter und andere Funde aus der Wüste der Großstadt waren dem neuen Direktor Armin Zweite eine Zurschaustellung in der Städtischen Galerie wert.

Der Macher war einer der ersten Mahner unserer Konsum- und Wegwerf-Kultur. Viel früher als andere machte Schult seinen Mitmenschen bewusst, dass unsere Umwelt allmählich kaputtgeht. Vielerorts finden sich heute kleine und große Objekte dieses Umweltkünstlers. Mit seinem „Trash People“, einer Armee aus tausend Müllskulpturen, marschiert er immer noch um die Welt. Weitere Müllmänner stehen in Museen und kirchlichen Hallen, in Büros von Politikern und Industriellen. Berühmt wurden ebenso seine Serigraphien mit Diamantstaub, sein Friedensspeicher oder die leuchtende Weltkugel, die ein Hubschrauber auf eine Kölner Brücke hievte. Stärkstes Aufsehen erregte der mit einem Flugzeug simulierte Crash am World Trade Center – den er zwei Jahre nach dem 11. September 2001 am Ort der Katastrophe vollzog. Schult porträtierte alle Bundeskanzler (für Angela Merkel machte er Wahlkampf).

Am 2. Juli 2014, seinem 75. Geburtstag, kam der Universalkünstler mit seiner Muse noch einmal zum Anfang der gemeinsamen Aktionskunst zurück: Zum Start des Tollwood-Festivals in München eröffneten  die beiden Unzertrennlichen gemeinsam mit dem Deutschen Tierschutzbund einen von elf Bildpaaren gesäumten Weg, dessen Ziel das Ende der industriellen Intensiv-Tierhaltung sein soll.

Müll blieb das Leitthema des Machers. Müll ist für ihn Menschheitsgeschichte. „Wir sind Müll“, predigt er unermüdlich, „wir produzieren Müll und aus Müll destilliert sich wieder neues Leben.“ Es gibt ein gutes Dutzend Bücher von und über Schult. In Berlin betreibt er heute eine Galerie, in Köln ein eigenes Museum.

 

Über diese Galeristen und einige praktizierende Künstler berichtet der Autor in einem voraussichtlich Ende des Jahres 2014 erscheinenden Buch mit dem Titel „Macher Mörder Menschenfreunde“.

Veröffentlicht am: 21.08.2014

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Oskar Holl
21.08.2014 17:52 Uhr

Eine schöne Erinnerung! - Es ist immer erfreulich, Texte von Karl Stankiewitz zu lesen. Und dieser Aufsatz zeigt, dass München zu bestimmten Zeiten zwar nicht unbedingt ein weltbedeutender Mittelpunkt, doch auf jeden Fall eine wichtige Durchgangsstation für Künstler war - und Karl Stankiewitz ein richtiges Gespür hatte.

Mit den besten Grüßen,

O. Holl

Dr. Michael Henker
22.08.2014 10:04 Uhr

Wieder ein guter Artikel auf einem guten Portal.

Glückwunsch

M.H.