Vor 25 Jahren ließ Ungarn tausende DDR-Urlauber nach Bayern ausreisen
Wie die Wende begann
Das Ergebnis kurz darauf: Löcher in der Berliner Mauer - hier eine Aufnahme aus Berlin im November 1989. Foto: Michael Grill
Fernsehteams aus dem In- und Ausland und Zeitungsreporter haben Stellung bezogen in Städten nahe der bayerischen Ostgrenze. Niemand weiß, wann und wo der Dammbruch passieren würde. Am 19. August waren bereits 600 DDR-Bürger nach einem von der Paneuropa-Bewegung organisierten „Picknick“ über die ungarisch-österreichische Grenze in die Freiheit „spaziert“; die Sperranlagen waren schon seit Mai abgebaut worden, die Grenzer grüßten freundlich. Karl Stankiewitz erinnert sich, wie der Herbst 1989 begann.
Der Eiserne Vorhang, der Europa trennte, war damit erstmals durchlöchert. Und die politischen Signale schwenken allmählich um, auf Grün. Gerüchte tauchen auf von einem Geheimtreffen auf Schloss Gymnich bei Bonn, bei dem Kanzler Kohl und Außenminister Genscher dem ungarischen Ministerpräsidenten und seinem Außenminister einen Kredit zusagt haben sollen. Am 12. September wird die Münchner Abendzeitung einiges Aufsehen erregen mit der mehrseitigen Schlagzeile: „Die Millionen-Spekulation. An wen hat Bonn wie viel gezahlt?“
In der ersten Septemberwoche haben sich etwa 150.000 Urlauber ganz legal mit abgestempelten DDR-Pässen im Land des längst nicht mehr ganz so strengen „Gulasch-Kommunismus“ eingefunden. Die meisten nicht etwa zum Baden im Balaton, sondern von dem – auch TV-Reportern offenbarten - Wunsch beflügelt, irgendwie weiter zu gelangen in den freien Teil Deutschlands.
Als Korrespondent auswärtiger Zeitungen pendle ich also zwischen den Schlagbäumen an Donau und Salzach, wartete wie alle und notierte erst mal: keine besonderen Vorkommnisse.
Auf dem Platz eines Volksfestes bei Hengersberg besuche ich das größte von fünf Zeltlagern vor der deutsch-österreichischen Grenze, aufnahmebereit für tausend Menschen. Auch in der Passauer Nibelungenhalle, wo eigentlich „Das Land des Lächelns“ gespielt werden sollte, können binnen drei Stunden 348 Betten aufgestellt werden. 8000 Mark teure Heißluftheizer sollen die Zelte winterfest machen, denn niemand kann sagen, wie lange die demnächst erwarteten Flüchtlinge bleiben würden. Verfügbar sind lange Zinkwannen zum Waschen, Container mit Duschen, ärztliche und geburtshilfliche Versorgung, eine Haftpflichtversicherung für zehn Tage und Gutscheine für ein Benzingemisch, mit dem die Ankömmlinge mit ihren Zweitakt-Trabanten weiterfahren könnten. „Der größte Rotkreuz-Einsatz seit Kriegsende“ - so BRK-Präsident Bruno Merk – war generalstabsmäßig organisiert.
Am 10. September, einem Sonntagabend, hocke ich mit dem Kollegen Rolf Henkel, Nachrichtenchef der Abendzeitung, in einem Tiroler Wirtshaus, als die lange erwartete Nachricht kommt: Sie dürfen jetzt raus. Ungarns Außenminister Gyula Horn hat das im West-Fernsehen bekannt gegeben, und damit anderslautende Vereinbarungen mit der DDR ausdrücklich annulliert. Eine Sensation, der Beginn eines neuen Zeitalters? Noch in der Nacht schickt die AZ je ein Text- und Fototeam in drei „Auffanglager“.
Schon gegen 4 Uhr früh treffen die ersten DDR-Flüchtlinge in Passau ein, sie haben schnellere, weil westliche Autos. Ich rase ebenfalls los und erreiche im Morgennebel die Grenze Freilassing. Vor dem ersten Schlagbaum stoße ich auf ein ratloses Ehepaar, das in einem Trabbi Baujahr 1964 mit dem letzten Tropfen angekommen ist. Während ich die beiden Thüringer im verstopften Straßengewirr zur Extra-Tankstelle lotse, höre ich ihre Geschichte. Vom Urlaub an der bulgarischen Schwarzmeerküste waren sie, bereits mit Fluchtabsicht, erst mal nach Rumänien und dann nach Ungarn gefahren.
Die Sorge um den richtigen Treibstoff ist tatsächlich das größte akute Problem derer, die als erste in dieser entscheidungsvollen Nacht endlich die heiß ersehnte BRD erreichen. Auch ärgern sie sich, dass man ihnen an der Grenze nur 50 und nicht 200 Deutsche Mark als „Überbrückungsgeld“, wie sie in Westzeitungen gelesen hatten, in die Hand gedrückt hat. Sorgen haben sie obendrein wegen ihrer daheim gebliebenen Verwandten - würden diese gar in Sippenhaft genommen oder ebenfalls „rübermachen“ wollen und können?
Ebenso plagt sie die Ungewissheit, ob und wo und wann sie wieder arbeiten und gute Westmark verdienen können. Zum Glück hängen am Holzzaun, den der Bundesgrenzschutz bewacht, bereits Zettel von Firmen, die von der Altenpflegerin bis zum Zimmermann gute Jobs anbieten. Daniel Schubert aus Leipzig, frisch ausgebildet als Lackierer, will sich gleich melden. Er hatte sich mit sechs Kameraden in einen auch nicht sehr geräumigen Lada gezwängt, war deshalb von österreichischen Gendarmen unterwegs zum Umsteigen in ein anderes Fluchtauto aufgefordert worden und meint dennoch: „Es war die schönste Autofahrt meines Lebens“.
Bis 12 Uhr mittags sind die ersten 200 Übersiedler, wie sie hier offiziell heißen, im Lager Freilassing registriert. Viele weitere – Genscher schätzte die Gesamtzahl der Ungarn-Auswanderer auf „mehr als 6000“ - werden hier noch erwartet: auch ein Sonderzug und ein Bus sind avisiert. Aufgerufen nach Laufnummern, werden die schlangestehenden, überwiegend noch nicht 30 Jahre alte Paare, viele mit Kindern, und Einzelpersonen beraten: von Rotkreuzhelfern, Ärzten, Seelsorgern und Mitarbeitern des Arbeitsamts. Die Beratung findet oft auf Bayerisch statt, was nicht alle gleich verstehen. Einem muss ich erklären, was ein Spengler ist.
Auch beim Ausfüllen der langen Fragebögen lassen sie sich gern helfen. Einige zögern bei der Frage nach der Zugehörigkeit zu Organisationen. „Irjendwo warn wa doch alle drinnen, so ne Scheiße“, brummt Andreas in Zelt Nr.4 und trägt ein: FDJ, FDGB, in der SED war er wohl nicht. Der freie Westen will es aber ganz genau wissen: „Ich habe die DDR aus folgenden Gründen verlassen...“ Andreas murrt: „Wat schreibste denn da rin?“ Die blutjunge, „seit hoibe sieme “ rastlose Rotkreuzschwester Christine Zuber empfiehlt: „Soziale und politische Gründe.“ Nicht wenige haben bereits Kontakte im Westen und können das Auffanglager, wo 70 Zelte für maximal 700 Menschen und ein Großzelt für die Essensausgabe aufgestellt sind, bald nach dem bürokratischen Aufnahmeverfahren wieder verlassen.
Am nächsten nebelverhangenen Morgen ist der Parkplatz voll. Die ganze Nacht konnte man es rattern hören auf den Eisengittern, die über eine Wiese gelegt sind, um die vielen Fahrzeuge meist älterer Bauart ohne Schlammbildung aufnehmen zu können. Vor den neun Telefonkabinen am Eingang stehen jetzt Schlangen. Ein eigener Berater von der Post hilft beim Suchen und Wählen, ein Rotkreuz-Mädchen wechselt laufend Kleingeld. Eine der Zellen ist offen. Ein französisch sprechender Kameramann vom kanadischen Fernsehen filmt gnadenlos hinein. „Wir sind da“, ruft eine Frau offenbar Verwandten zu. „Wir haben Conny mitnehmen können, aber Manuela ist noch in der DDR, ich muss versuchen, sie rauszukriegen, sie ist jetzt siebzehn.“ Die Frau bricht in Tränen aus. Sie kann das Mikrophon wegschieben und endlich die Tür schließen. Das TV-Team hat die erste Story des zweiten Tages im Kasten. Die große Flucht – ein Medienereignis.
Bürger aus Bad Reichenhall, Berchtesgaden und Salzburg kommen an mit Bergen von Kleidern, es sind nicht immer neue, gute Sachen. Auf dem Schwarzen Brett im Schwimmbad annonciert jetzt ein regelrechter „Wohnungsmarkt“. Aus ganz Oberbayern werden Unterkünfte angeboten, meist nur für eine Person, „notfalls 2", nicht immer kostenlos. Das Lager ist voller kleiner Kinder. Einige spielen im Kies, der für Regenwetter vor den Zelten aufgeschüttet wurde. Noch müssen die roten „Mietheizer“, die rundum mit gelben Schläuchen verbunden sind, nicht angetrieben werden.
Am Abend schauen alle im Fernsehen den „Brennpunkt“, der ihr Ankommen dokumentiert. Als Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble seinen Dank an Ungarn ausspricht, gibt es Beifall. Kopfschütteln löst indes die Meinung des Ministers aus, „dass dies unsere Beziehungen zur DDR nicht belasten muss“. In der Diskussion zur Frage, wie es drüben nun weitergehen werde, meint ein Kraftfahrer aus Mühlhausen: „Das ist jetzt ein Ventil. Wären die Vielen geblieben, hätten sie doch für gewisse Änderungen sorgen müssen.“ Was im Klartext heißt: Drüben bleibt nach dem Exodus der Unzufriedenen erst recht alles beim Alten.“
Nein, nach diesem ersten „offiziellen“ Bruch des Eisernen Vorhang bleibt nichts wie es war. Es ist der Anfang vom Ende der DDR. Schon am Abend des Massenaufbruchs in Ungarn, der von den DDR-Medien schweigend übergangen wird, muss die Volkspolizei in Leipzig nach dem jetzt regelmäßigen Friedensgebet die Nikolaikirche umstellen, um eine große Demonstration zu verhindern (was bald nicht mehr gelingen wird). Und schon am nächsten Tag berät das Politbüro (in Abwesenheit des erkrankten Honecker), „wie das Loch Ungarn zuzumachen sei“. Stasi-Chef Mielke verlangt einen Maßnahmenkatalog, um den „Missbrauch des Reisens“ zu verhindern; so sollen fortan alle Reiseanträge zentral überprüft werden. Vier Stasi-Spezialisten werden gleich mal nach Budapest entsandt, um die dort noch harrenden DDR-Bürger zu verunsichern.
Am Tag darauf, am 13. September, berichtet mein befreundeter Korrespondenten-Kollege Horst Schäfer im SED-Zentralorgan Neues Deutschland über allerlei Probleme der ausgereisten Landsleute und kommentiert pflichtgemäß: „Mit der Nacht-und-Nebel-Aktion zur Abwerbung von in Ungarn befindlichen DDR-Bürgern und dem damit verbundenen Medienrummel, so kann man hier immer wieder hören, haben so manche in der Bonner politischen Szene zweifellos auch das Ziel verfolgt, die massenhaften Proteste in der Bundesrepublik gegen die fortgesetzte Hochrüstung und die permanente Massenarbeitslosigkeit aus der öffentlichen Diskussion zu verdrängen.“
Über „erhebliche Anpassungsprobleme bei jedem Siebten“ muss ich dann tatsächlich selbst Anfang Oktober noch einmal berichten. Zusammen mit dem Roten Kreuz starten Psychologen eine Aktion zur Betreuung der DDR-Flüchtlinge (am 30. September war ein weiterer Schub aus der bundesdeutschen Botschaft in Prag eingetroffen). Auf einer Pressekonferenz in München ist von Angstsymptomen und Depressionen die Rede. Viele seien in eine totale menschliche Isolation geraten, zumal sie meist unter Berufskollegen, in einer leistungsorganisierten Gesellschaft, keine Geborgenheit gefunden hätten. Nicht wenige zumindest der „Spontan-Flüchtlinge“ würden wohl noch einige Zeit „darüber grübeln, ob ihr Fluchtentschluss richtig war“.
Ein Interview zum Mauerbau veröffentlichte der Kulturvollzug hier.