Karl Stankiewitz zur Gründung der Kabarett-Legende "Rationaltheater" vor 50 Jahren
Die schärfste Nummer von ganz Schwabing
Multimedial und investigativ: Bruno Jonas, Ulf Schmichs, Sigi Zimmerschied, Reiner Uthoff - und hinter der Helmut-Schmidt-Maske Brigitte Koesters. Foto: Reiner Uthoff
Am 28. Januar 1965 eröffneten drei Ex-Studenten in der Hohenzollernstraße ein neues politisch-satirisches Kabarett. Sie nannten es „Rationaltheater“. Es war anders als die anderen. Es war von vornherein direkter, aggressiver, konkreter als zum Beispiel die bis dahin tonangebende, nur Häuserblocks entfernte „Münchner Lach- und Schießgesellschaft“, die gerade ihre erste Krise hatte.
Nach einem wenig witzigen Fernseh-Talk mit prominenten Politikern musste sich der sonst so souveräne Dieter Hildebrandt geschlagen geben: „Die lächeln einen um.“ Weite Strecken des neuen Programms „Schuld abladen verboten“, so kritisierte damals der Schreiber dieser Zeilen, waren pure Komödie und Blödelei, vieles stammte aus dem von Hildebrandt selbst erkannten „Pointen-Müll“, deutlich dominierte Lachen das Schießen.
Es war Wendezeit, und München marschierte vorneweg. In der Universität flatterten am 2. Februar 1965 erstmals wieder, symbolhaft im Zeichen der „Weißen Rose“, Flugblätter von der Lichthof-Empore, die einige noch aktive „Nazi-Professoren“ namentlich anprangerten; bald darauf wurde zur ersten großen Studentendemo gegen den „Bildungsnotstand“ gerüstet. Als sich die Gesellschaft merklich zu verändern begann und große Teile der Jugend aufbegehrten, „da gehörten wir für die jungen Leute plötzlich zum Establishment“, erinnerte sich Hildebrandt später in einem Interview zu „München 68“.
Für Reiner Uthoff, 27 Jahre alt, studierter Volkswirt und Soziologe sowie Leutnant der Reserve, und Ekkehard Kühn, der in Berlin schon Studenten-Kabarett gemacht hatte und Horst A. Reichel, der das „Theaters 44“ leitete, gab eben dieser Bewusstseinswechsel den Anstoß, von der kleinen Schwabinger Bühne aus die große Politik auf breiter Front anzugreifen. Dazu genügten dem Trio nicht mehr die herkömmlichen Waffen: Wort, Witz, Melodie. Erstmals argumentierten sie auch per Dokumentation in Form von Film, Plakat, Lightshow, sowohl im Theater wie auf der Straße und an ungewöhnlichen Orten. Schon im ersten Programm „Henkerswahlzeit“ ging es ans Fundament der (Bonner) Demokratie. Sie kämpften für das Recht schlechthin (oder was sie dafür hielten), insbesondere für das Recht von Minderheiten wie Gastarbeitern.
So errang das „Münchner Rationaltheater“ schnell den Ruf, das schärfste Kabarett der Republik zu sein. Im September 1966 wurde dieses Urteil spektakulär bekräftigt. Da hängte Uthoff in den Schaukasten seines Kneipentheaters einige Fotokopien jener nur gerüchteweise bekannten Entwürfe für KZ-Anlagen, die den damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke zu belasten schienen. Jeden Tag kam dann die Kriminalpolizei und beschlagnahmte. Zu einer Anzeige konnte sich der Angegriffene nicht entschließen. Die von Beate Klarsfeld stammenden Dokumente wurden später wieder freigegeben.
Eine Anzeige wegen versuchter Erpressung war die Bescherung zu Weihnachten 1969. Uthoff hatte im Zusammenhang mit seinem „ersten deutschen Sing-Sing-Spiel“, das er unter dem Titel „Knast“ mehrmals auch vor Strafgefangenen und Justizbeamten darbot, Münchner Kaufhäuser angeschrieben: Sie sollten den Kindern von Müttern, die „mit der von Ihnen propagierten Konsumhaltung nicht fertig“ und deshalb zu Ladendiebinnen und eingesperrt wurden, doch eine Weihnachtsfreude bereiten. Auch dieses Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Uthoff und seine Frau Sylvia aber hatten aber jahrelang Hausverbot in Kaufhäusern. Immerhin erbrachte die Aktion einige tausend Mark und viele Sachspenden für Kinder von Gefangenen.
Als im Mai 1971 ein 20-Jähriger wegen Schwarzfahrens in der Tram zu einem Jahr Jugendstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde, ließ Uthoff städtische Fahrscheine nachdrucken und verkaufen, auf denen zu lesen war: „Ich protestiere gegen das Schwarzfahrerurteil und bin für den Nulltarif“. Der Erlös sollte für die Berufungsverhandlung verwendet werden. Uthoff erhielt eine Anzeige wegen Urkundenfälschung. Er beschäftigte ständig vier Strafverteidiger und mehrere Anwälte für Zivilsachen. Die meisten Verfahren wurden wieder eingestellt. Nur sieben Fälle kamen überhaupt vor Gericht.
Wegen Stromdiebstahls wurde er angezeigt, weil er bei einer Demonstration einen Lautsprecher an das Leitungsnetz der U-Bahn angeschlossen hatte. Als er mit Flugblättern die Polizeibeamten informierte, wie sie sich bei Demos „konfliktfrei“ verhalten könnten, wurde er wegen Aufforderung zum Ungehorsam und Außerkraftsetzens öffentlicher Anlagen dem Staatsanwalt zugeführt. „In einigen Ämtern gibt es Leute, die uns nicht mögen“, argwöhnte der aus Bielefeld stammende Wahlmünchner, der die meiste Zeit des Jahres mit zwei Ensembles, schwarz-weiß-rotem Bus, Schreibmaschine und Bordsprechanlage auf Tournee war. Einmal erhielt er 200 Mark Buße wegen „unschöner Gestaltung eines Transparents“ in der ziemlich unschönen Hohenzollernstraße.
Auch mit seinem potentiellen Arbeitgeber, der Bundeswehr, legte sich der Leutnant i.R. an. Das Bundeswehrstammamt leitete ein Disziplinarverfahren ein, nachdem Uthoff im Verlauf eines anhängigen Degradierungsverfahrens dem Generalinspekteur Ulrich de Maizière geschrieben hatte: „Lieber Ulrich, als überzeugter Antikommunist bin ich auch heute noch bereit, nach Stalingrad zu fahren, um nachträglich zu fallen...“ Vor dem Kölner Verkehrsdisziplinargericht fuhr der Leutnant per Rolls-Royce mit Wehrdienstverweigerern vor, die er in Operettenuniformen gesteckt hatte.
Das 50. Ermittlungsverfahren, auf Religionsbeschimpfung lautend, ließ der Dekan von Verden an der Iller anstrengen. Dabei hatte Uthoff in seinem jüngsten Programm „Vom Säugling zum Bückling“ nur kirchliche Kleinschriften zitiert und kommentiert. „Gegen uns war auch das letzte Verfahren wegen Gotteslästerung eingeleitet worden – acht Tage, bevor dieser Paragraph durch Bekanntmachung im Bundesgesetzblatt aus dem Verkehr gezogen wurde.“
„Welche Gewerkschaft bietet im Falle eines Beitritts einem der letzten politischen Kabaretts der BRD beim Erstellen von Gegenöffentlichkeit umfassenden Rechtsschutz?“ Die im Dezember 1973 in der Süddeutschen Zeitung erschienene Anzeige – halb Notschrei, halb Satire – war das vorläufige Fazit eines siebenjährigen Krieges, den die Justiz gegen den heutigen Hauptmann von Köpenick führte. Sie bezog sich auf das folgende Programm, in dem Uthoff die Presse und die Medienpolitik aufs Korn nahm. Zwecks Dokumentation verschickte er Fragebogen an Journalisten. Die Premiere fand „draußen vor der Tür“ beim Medienparteitag der SPD statt. 500 Mal wurde die „Tagesshow“ in 30 Städten gespielt.
Es folgten die „1. Deutsche Bon(n)zenschau, eine Komische Oper in mehreren Legislaturperioden“ und „Bonn Hur“, bei dessen Premiere im Bundestag einige Abgeordnete lautstark protestierten. Uthoff hatte sein Strickmuster, die Collage von Ton- und Bilddokumenten, inzwischen zur Perfektion entwickelt. Indem er typische Redetexte prominenter Politiker im Originalton „aus dem Zusammenhang riss“ (wie Betroffene oft lamentieren), neu montierte, vertonte, zu Popsongs verarbeitete und schließlich in Revue-Szene setzte, konnte er allerhand Leeres, Dummes, Aufgepropftes, Bedenkliches bloßlegen. Eine Methode, die später auch das Fernsehen, das den aggressiven Uthoff immer boykottiert hat, nicht mehr verschmähte.
Im Gästebuch des „Rationaltheaters“ finden sich Willi Brandt, Herbert Wehner (der den Nicht-Genossen als „freischwebendes Arschloch“ beschimpfte), Rudolf Augstein und Günter Grass. Einige der insgesamt 35 Programme zeigten Wirkung. So soll „Tatort Vatikan“ zu einer Welle von Kirchenaustritten geführt haben. 1984 inszenierte Margarethe von Trotta im Rationaltheater den „Vogelhändler"; Günter Wallraff, Martin Walser und Christian Müller steuerten Programm-Texte bei.
Reiner Uthoffs Sohn Maximilian, der 1967 geboren wurde und Jura studiert hat, ist kräftig in seine Fußstapfen getreten. Eer versucht seit 2007, „die spröde Materie des Rechts satirisch zu unterwandern“ und „den Kapitalismus mit Satire zu unterwandern“. Seit Februar dieses Jahres präsentiert Max Uthoff zusammen mit Claus von Wagner für das ZDF „Die Anstalt“, die – wie vor einem halben Jahrhundert das Theater des Vaters – binnen kurzer Zeit höchstes Lob eingeheimst hat. Aber auch - wegen gelegentlicher Unschärfe – schärfste Kritik.
Der jetzt 77jährige Reiner Uthoff hat sich seit 2005 vom Kabarett zurückgezogen. Mit seiner Frau betrieb er noch ein Restaurant am Isartorplatz und veröffentlichte Bücher mit politischer Lyrik; eine französische Akademie verlieh ihm einen Literaturpreis. Er kümmert sich aber nicht nur um drei Enkel und drei Hunde, sondern mit gleicher Verve wie damals um Politik, Medien und Kabarett. Wenn er im Gespräch auf die Anfänge zurückkommt, erkennt er heute: „Wir konnten ja eigentlich nix, aber wir hatten Dampf.“ Und Ideen, deren Umsetzung viel Aufwand und Mut erforderten: „Wir hatten nicht nur Multimedia auf die Bühne gebracht, wir machten erstmals investigatives Theater, indem wir, statt nur aktuelle Schlagzeilen zu pointierten, selbst recherchierten.“