Karl Stankiewitz zu einer Tragödie im Münchner Fasching von 1881

Als aus kostümierten Eskimos lebende Fackeln wurden

von Karl Stankiewitz

Die "Eskimotragödie" in einer zeitgenössischen Darstellung. Foto: Valentin-Karlstadt-Musäum

Im Rahmen der fünfteiligen Reihe „Kunst im öffentlichen Raum“, gefördert vom Kulturreferat der Stadt, wurde von dem Künstlers Stefan Lenhart an „Die Eskimotragödie“ erinnert. Beim Faschingsfest im damals größten Münchner Vergnügungspalast „Kil's Kolosseum“, nahe der Hans-Sachs-Straße, fanden am 18. Februar 1881 neun Studenten der Akademie der Bildenden Künste den Tod, als ihre Eskimoverkleidungen Feuer fingen. Mit einem inszenierten Trauermarsch am Aschermittwoch durch die Innenstadt zum Südfriedhof, angeführt von einer zehnköpfigen Kapelle und historischer Trauermarschmusik, erinnerte Lenhart an das Unglück vor 134 Jahren. Neun Studenten der Kunstakademie von 2015 begleiten in historischer Trauerkleidung der Zeit um 1880 den Zug.

Kulturvollzug-Autor Karl Stankiewitz hat sich mit dieser Münchner Tragödie bereits in seinem Buch "Schwarze Tage" befasst. Hier sein Artikel:

Eine „Kneipreise um die Welt“ ist als Motto der Nacht am Freitag, dem 18. Februar 1881, angesagt. Dementsprechend sind alle Räume in Kil’s Colosseum, dem größten Vergnügungspalast der Stadt, exotisch dekoriert und die überwiegend studentischen Teilnehmer kostümiert. Das Faschingsfest „soll würdig sein der Stadt und der Künstlerschaft, deren Bedeutung unbestritten einzig dasteht in beiden Hemisphären“, schwärmt Monate später eine illustrierte Broschüre. Wie da vermeintliches „Kneipen- und Wirthshausleben verschiedener Völker“ in wochenlanger Arbeit inszeniert wurde, soll hier aus zeitgenössischen Berichten gerafft, aber wortgetreu wiedergegeben werden:

Durch einen bis zur Saaldecke strebenden chinesischen Turm gelangt man zunächst zu den Söhnen des Himmels, die The und Opium verabreichen. Dann geht’s zur elenden Waldschenke der edlen Polen und zu einer nordischen Fischerhütte, die mit Moos und Stroh gedeckt ist. Bei den amerikanischen Hinterwäldlern gibt’s Gin, Brandy und Negergesänge, bei den gemüthlichen Sachsen Blümchenkaffee. Im türkischen Kaffeehaus widmen sich zwei Muslims dem Zubereiten des duftigen Thrankes und öffnen gegen ein Trinkgeld den Vorhang zum Harem. Felsmassen sind von einem kannibalischen Indianerstamm besetzt. Und im Gebirgswirthshaus füllt eine stämmige Mirzl die schäumenden Bierkrüge von Holzknechten, Bauernburschen und Klampern.

Direkt neben dieser Almhütte haben die angehenden Bildhauer der Kunstakademie eine Eskimo-Höhle aus Pappe aufgebaut, mit einem Hinweis, der traurige Wahrheit werden soll: „Zum blauen Wunder. Heute großer Krach!!!“ Eisberge aus Gips ragen fast bis zur Saaldecke. Zwölf Zöglinge von Professor Wittmann haben aus Rupfen, Pech, Harz und Werg gefertigte „Eisbärfelle“ umgehängt. Sie braten „Häringe und andere Seethiere der arktischen Region“ über einem Talglicht. Den also „maskirten“ Festsaal füllen an die 3000 vergnügte Menschen.

Gegen Mitternacht kommt einer der Eskimos, der 32-jährige Adolf Görke aus Breslau, dem Flämmchen zu nahe. „So schnell wie der Gedanke steht der ganze Mann vom Scheitel bis zur Sohle in hellodernden Flammen, im Nu ein Zweiter – in den Saal stürzen zwei Feuersäulen, weit um sich einen gewaltigen Funkenregen verbreitend.“ Den Augenzeugen erscheinen die brennenden, schmerzverzerrten, wie Irrwische tanzenden Zottelmänner als „getreueste Illustration von Neros lebenden Fackeln“. Stichflammen schießen aus ihren Perücken.

Im Nu, heißt es dann, „braten ein Dutzend junger, kräftiger, hoffnungsvoller Menschen“. Zunächst merken es nur wenige, und die schütten sofort Bier, Champagner und Wasser auf die lebenden Flammensäulen. Andere im tobenden Saal halten das für einen Jux. Beide Kapellen spielen weiter, die jungen Leute führen, je nach Kostüm und Laune, die Tänze der „wilden Völker“ auf.

Ein großer Brand ist zu befürchten. Denn der Saal ist gefüllt mit brennbaren Gegenständen: Türvorhänge, Tischtücher, Girlanden, Dekorationen. Doch die Feuerwehr, die vorsichtshalber schon anwesend war, kann die Flammen rasch löschen. Es kommt nicht einmal zu einer Panik. Die meisten merken überhaupt nichts von der Tragödie. Ahnungslos, ungehemmt wird weiter getanzt, gezecht, gejubelt, Fasching gefeiert bis fünf Uhr früh. Das Schauerdrama hat auch nur vier Minuten gedauert. Außerdem haben Sanitätsgehilfen und Feuerwehrleute die verkohlten oder noch lebenden „Eskimos“ schnell beiseite geschafft. Im Korridor, in Garderoben und dann im Krankenhaus sind acht Ärzte und 15 Barmherzige Schwestern unter Leitung von Professor Johann Nepomuk Nussbaum intensiv um sie bemüht. Sie tauchen die zwölf Brandopfer, denen die Haut rauchgeschwärzt in Fetzen herunterhängt, in Öl und warmes Wasser, spritzen Morphium. Einer der Erbarmungswürdigen schreit: „Erschießt oder vergiftet mich doch!“

Noch am Samstag sterben sechs, der Jüngste mit 17 Jahren, der älteste, ein 39-jähriger Photograph, hinterlässt Frau und zwei Kinder. Drei weitere scheiden am Montag nach der „Kneipreise um die Welt“ aus der Welt. Tausende folgen dem Trauerzug zum Südlichen Friedhof, darunter Prinzregent Luitpold, Bürgermeister Johannes von Widenmayer, der preußische und der sächsische Gesandte. Ein derartiges Begräbnis, so ein Berichterstatter, habe München seit der Pulverexplosion am Karlstor vor 25 Jahren nicht mehr erlebt.

In ganz Europa wurde über die „Eskimotragödie“ berichtet. Der Schriftsteller Ludwig Ganghofer, der damals in München seinen Doktor der Philosophie machte, beschrieb sie, mit etwas Phantasie geschmückt, in seiner Autobiographie „Lebenslauf eines Optimisten“. In einer Geheimsitzung des Magistrats musste sich Baurat Zenetti gegen Vorwürfe wehren: In jeder Hütte, auch bei den „Eskimos“, habe ein großes hölzernes Wasserschaff gestanden. Auf Brandschutz in Vergnügungslokalen und Bühnenhäusern wurde fortan strengstens geachtet. Anträge der Betreiber und amtliche Bescheide zu Umbaumaßnahmen im „Grundstück am Mahlmühlbach, genannt Colosseum“ (etwa der Einbau von Kabinen, eines Theaters oder einer Rutsche für den „Hexensabbat“) füllen im Stadtarchiv halbmeterdicke Bände. So sollte die Bühne einmal versteifte Asbestvorhänge und zwei Meter breite Notausgänge bekommen, womit die feuerpolizeilichen Vorschriften „mehr als erfüllt“ waren, meinte die Direktion. Dieselbe kündigte nach Renovierung und Elektrifizierung im „schönsten und größten Concert-Etablissement Münchens“ eine Neueröffnungsvorstellung zum 1. August 1888 an.

Der Trauerzug von  Stefan Lenhart  begann am Vormittag des Aschermittwochs 2015 in der Kunstakademie und führte mit dem Golden Brass Ensemble zum Alten Südfriedhof. Gegen Mittag sprach die Kunsthistorikerin  Daniela Stöppel an der alten Kastanie in der Hans-Sachs-Straße 5, dem Standort des historischen „Kil's Kolosseum“. Rainer Maria Schießler, Pfarrer von St. Maximilian, hielt im Alten Südfriedhof eine Rede am Grab der verunglückten Studenten.

Veröffentlicht am: 19.02.2015

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