Kathak und Voguing bei Dance 2015 in Muffathalle und Carl Orff-Saal

Kreons Schicksal auf dem Laufsteg

von Isabel Winklbauer

Tanz für die Götter: Stephen Thompson in "Antigone Sr. (L)". Foto: Bengt Gustafsson

Retro ist out, genug des 70er-Jahre-Jazzdance! Das Festival Dance hat endlich den Mut, modernere Tanzgattungen zu zeigen: Voguing aus New York, choreographiert von Trajal Harrell, sowie indischen Kathak mit Blick auf Bangladesch, inszeniert von Helena Waldmann, sind die zwei besten Beispiele. Auch wenn die Stücke "Antigone Sr. (L)" und "Made in Bangladesch" ihre Schrullen haben, ist es eine Wohltat, Neues zu sehen. Niemand braucht sich zu sorgen, dass die Underdog-Styles nicht mithalten können: Waldmanns Tänzer zeigen in teils herausragender Qualität die Tradition des indischen Tanzes, bei Harrell bringen Laufsteg-Queens die Halle zum Toben.

"Antigone Senior Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church (L)" ist natürlich kein glücklicher Titel für jedwedes Stück. Trajal Harrell, amerikanischer Choreograf, mag so viel konzipieren, einteilen und auflisten wie er will, sein 2012er-Werk, das in verschiedenen Ausmaßen und Besetzungen aufgeführt werden kann, braucht eigentlich kaum mehr Erklärungen als die, die Harrell im Stück gibt: "Es ist eine griechische Tragödie. Da muss man durch." Antigone ist das Thema, das mit vielen Kostümen und Interaktionen auf die Bühne gebracht wird. Eine Riege graziler Schwäne: die Tänzer Stephen Thompson, Thibault Lac, Rob Fordeyn und Ondrej Vidlar, schlüpfen dafür in die verschiedensten Rollen und tanzen, als gäbe es kein Morgen.

Wenn das Schicksal im Catwalk läuft: "Antigone" von Trajal Harrell. Foto: Bengt Gustafsson

Vogue, das ist der Tanz der homosexuellen Kultur im New Yorker Stadtteil Harlem. Seine Basis ist der Fußballen- und hüftbetonte Catwalk, den Harrells Protagonisten in Vollendung beherrschen. Sie sind nicht vom Hip Hop, sondern vom klassischen Ballett beeinflusst - das nimmt dem Tanz, der durch den Dokumentarfilm "Paris is burning" auch einem breiteren Publikum bekannt wurde, viel von seiner Oberflächlichkeit. Der Stil, den Harrell und seine vier Mitstreiter zeigen, ist sicher und gelassen. Mit dem hysterischen Voguing, das man in Tanzsendungen im Fernsehen sieht, hat das nichts gemein, hier geht es um einen hoch ästhetischen, sorgfältig entwickelten Kunststil. Manche Szenen, wenn etwa Stephen Thompson einen Flic Flac rückwärts in liegender Bodenpose beendet, haben große daramatische Qualität. So mancher Rapper kann in den Laufstag-Battles der Harrell-Grazien auch lernen, wie man sich vollendet in den Schritt fasst. Diese vier wirft keiner aus dem Salon.

Zu allem skandiert Harrell immer wieder die Handlung vor, wie im Barocktheater. "I'm already dead!", klagt er als Antigone, oder "I'm gona give that bitch some knowledge", als Eurydike vom Tod ihrer Familie unterrichtet wird. Als es für Kreon an die harte Einsicht in seine eigene Idiotie geht, ist das Publikum zum Mitbrüllen und Mittanzen aufgerufen. Und oh Wunder, es funktioniert. Die Muffathalle steht und tobt, so mancher zieht sein Hemd aus und schwingt es über dem Kopf. Und das in München. Harrell, im Konzept zwar übereifrig, macht ziemlich viel etwas richtig.

Zwölf Kathaktänzer zeigen, was "Made in Bangladesch" bedeutet. Foto: Wonge Bergmann

Zuvor lenkte Helena Waldmann Stück "Made in Bangladesch" im Gasteig den Blick auf Näherinnen und Näher in Asien. Der moralische Zeigefinger ist hier übergroß: Während das Stück läuft, wird eingeblendet, was ein Bangladeschi-Arbeiter bisher verdient hat, 12 Cent, und wie viel Geld in derselben Zeit die Bekleidungsindustrie gemacht hat, nämlich Hunderttausende Euro. Bilder von Näh-Etagen flimmern über die Leinwand, Fotos der jüngsten Fabrikunglücke.

Waldmann setzt den indischen Kathak, in dem zu variierenden Armbewegungen fantasiereich gestampft wird, mit maschinellen Nähnadeln gleich. Wie Soldaten in einer Reihe vollziehen die Tänzer und Tänzerinnen die immer selben Bewegungen und führen so ihre eigene Kultur ad absurdum. Trotzdem sieht man es an den Handbewegungen: Es sind hervorragende Könner mit dabei. Sogar das Lächeln der Künstler - denen es in der Kunstszene kaum besser geht als Nähern, wie das Stück zeigt - soll maschinell, wie an- und abschaltbar, wirken. Doch es hilft nichts, ab und zu gelangt ein aufrichtiger Blick ins Publikum. Kathak funktioniert ganzheitlich, und wer ihn tanzt, der tanzt mit Herz und Verstand. Die Kraft, die von ihm ausgeht, wie die der Gays aus Harlem, kann der westlichen Tanzwelt einiges lehren.

Veröffentlicht am: 13.05.2015

Über den Autor

Isabel Winklbauer

Redakteurin

Isabel Winklbauer ist seit 2011 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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