Berlinale-Auftakt mit "Midnight Special" von Jeff Nichols
Mix aus Paranoia-, Thriller- und Familienfilm
Joel Edgerton, Michael Shannon, Jaeden Lieberher. Kirsten Dunst. Foto: Ben Rothstein. Rechte bei Warner Bros. Entertainment Inc und Ratpac-Dune Entertainment LLC.
Mit 66 Jahren... da fängt das Leben an... Ob trotziges Seniorentum à la Udo Jürgens auf die Internationalen Filmfestspiele von Berlin passt, auch wenn die Berlinale heuer ihren 66sten feiert? Welchen Jahrgang an Filmen diese Schnapszahl wohl hervorbringt? Kopfweh-lastiges oder Feier-Filme? Wir werden sehen. Bis zum 21.2.2016 grassiert auf jeden Fall wieder das Filmfieber in der Hauptstadt. Am Donnerstagabend stand schon mal ein erstklassiger Eröffnungsfilm auf dem Programm: Die vierfach Oscar-dekorierten Coen-Brüder hatten ihre satirisch-überdrehte Hommage an das klassische Hollywood-System der „Goldenen Ära“ der 1940er und 1950er Jahre („Hail, Caesar!“) im Gepäck: Ein absoluter Hit, der Kritiker- wie Publikumsherzen im Sturm für sich gewinnen konnte und zugleich ein seltener Fall.
Was wurde im letzten Jahr nicht alles über Isabel Coixets „Nobody Wants The Night“ gelästert... Schnee von gestern. Milde jedenfalls war die Festivalstimmung zum Auftakt, ganz wie die Temperaturen draußen vor dem Berlinale-Palast am Potsdamer Platz. Wer würde diesmal einen der begehrten Bären einheimsen? Vielleicht ja Michael Shannon für seine Performance in „Midnight Special“.
Plusgrade unter dem Himmel von Berlin, Pluspunkte für die bisherige Filmauswahl im Berlinale-Wettbewerb. Ein jetzt schon Großer (Michael Shannon) und ein kleiner Mann (Jaeden Lieberher), der vielleicht noch ein Großer werden wird, bestimmten den zweiten Tag der Berlinale. Vereint als Vater (Roy) und Sohn (Alton) sah man sie in Jeff Nichols’ neuestem Film „Midnight Special“. Der hatte sich nicht nur in Kritikerkreisen bereits mit seinen beiden bemerkenswerten Vorgängern („Shotgun Stories“ / „Take Shelter“) einen gewissen Ruf erarbeitet. Umso gespannter waren dementsprechend viele Kollegen in der brechend vollen Pressevorführung am Freitagmittag. Science-Fiction-Elemente, FBI-Ermittlungen – und dazu übersinnliche Kräfte eines Jungen: Kann das gutgehen? Und ob! Doch der Reihe nach.
„Ist alles ok?“ möchte Michael Shannon vom sichtlich verwirrten Sohnemann wissen. Beide sind auf der Flucht: FBI, CIA und die Homeland Security sind ihnen auf den Fersen. Wie lange schon? Keiner weiß das so genau. Und trotzdem hatte Alton (Jaeden Lieberher) – gegen die Weisung des Vaters (Michael Shannon) – kurzzeitig den Wagen verlassen. „Passen Sie besser auf Ihren Sohn auf!“ wurde Roy kurz zuvor von einer Passantin an der Tankstelle angeschnauzt. Doch wie soll das überhaupt fruchten bei einem mysteriösen Jungen mit blauer Taucherbrille im Gesicht, der ständig Gefahr läuft, jemanden anzusehen, um ihm anschließend blaue Laserstrahlen durch den Kopf zu jagen?
„Nichts Genaues weiß man nicht“ hätte da sicherlich Karl Valentin geantwortet. Aber das geht lange Zeit gut in Nichols’ atmosphärisch dichtem Endzeitspektakel um religiöse Führergemeinschaften (mit einem minimalistisch agierenden Sam Shepard als Prediger an der Spitze), wissenschaftliche Koordinatensysteme und hintersinnige Geheimdienstziele. Nur lose werden die familiären Beziehungen untereinander verhandelt, denn die erste Stunde in „Midnight Special“ gehört deutlich der Nacht, ihren Geheimnissen, aber in erster Linie auch der Action: Subtil und trotzdem auch durchaus rasant geht es hier zu.
Eine bessere Autoflucht gab es länger nicht auf der Leinwand zu sehen: Die Straßenmarkierungen schimmern düster wie in David Lynchs „Lost Highway“-Intro, einer der beiden Fahrer des Fluchtautos (Joel Edgerton) schaltet das Fahrerlicht aus, ehe er ausschließlich mit dem Nachtsichtgerät auf der Nase losdonnert. Kurz darauf macht es Peng! Ein Autocrash, ein Streifenwagen, ein Schuss: Nichols’ Stammkameramann Adam Stone kann hier ein weiteres Mal überzeugen, was im Besonderen auch für den Score aus der Feder von David Wingo gilt: Die abgehackten Piano- wie Synthieklänge wabern ausgiebig, gehen in die Tiefe, überraschen – und lassen den Kinosaal gleich mehrfach erzittern. Solch eine dunkel schimmernde Music of the Night bleibt noch Stunden nach dem Screening im Ohr: Klänge, nicht unbedingt für den nächsten Road Trip, aber für diesen hier sind sie schlichtweg fantastisch im besten Wortsinne.
Verwunderung ganz anderer Art macht sich auch rasch innerhalb der Handlungsstränge breit: Während der eine um religiösen Fanatismus und eine Sekte namens „The Ranch“ bald ins Leere läuft, nimmt der andere um FBI-Fahndungs- und Verhörmethoden mit einem glänzenden Adam Driver („Star Wars – Das Erwachen der Macht“) als investigativem Special Agent stetig mehr Fahrt auf, Schusswechsel inklusive.
Lange Zeit weiß niemand, warum Roy und sein Buddy Joel Edgerton („Zero Dark Thirty“) eigentlich diesen eher stummen Jungen zu Beginn in Gewahrsam genommen haben: Sind sie die Entführer? In welchem Auftrag handeln sie? Manche der Fragen werden gelöst, andere bleiben doch dann bis zum etwas aufgesetzten Ende – mit rot schimmernden Lichtgestalten und einem verwirrenden Zukunftsblick in Richtung Utopia, Stadt der Zukunft – unbeantwortet. Gerade aber der raffinierte Stilmix aus Paranoia-, Thriller- und Familienfilm (mit einer gewohnt bezaubernden Kirsten Dunst als mater dolorosa), der mit zahlreichen Referenzen an Science-Fiction-Formate wie Steven Spielbergs „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ nicht geizt, macht Jeff Nichols’ Wettbewerbsbeitrag zu einem wahrlich überraschenden Filmerlebnis. Eines, das sich trotzdem selbst nicht zu ernst nimmt und mit viel Bubi-Charme für große und kleine Jungs im Kinosaal punkten kann.
Die letzten fünf Minuten kann man sich immer noch selbst die Augen zuhalten, zum Wohle des Films. Ein Phänomen übrigens, das man ja auch aus mancher „Akte X“-Episode kennt... Ansonsten: Kein neues Genre, nirgends. Nur Staunen im irdischen Saale.
Simon Hauck