Karl Stankiewitz erinnert sich aus aktuellem Anlass als Vertreter der Generation 1928

Für uns kehrt jetzt das Gespenst zurück

von Karl Stankiewitz

Karl Stankiewitz bei der Marine HJ. Foto: privat

Jetzt sind wir nur noch fünf: der Rudi, der Schorsch, der Fritz, der Charly und ich. Fünf alte Männer, die das Grauen, den Zweiten Weltkrieg, am eigenen Leib erlitten haben. Klassenkameraden des Jahrgangs 1928, die ihre Staatsführung noch zum bewaffneten, absolut sinnlosen „Endkampf“ befohlen hat.

Am städtischen Wirtschaftsgymnasium machten wir 1946 mit lückenhafter Schulbildung unser Abitur. Später trafen wir uns alle Jahre wieder in einem Münchner Bierpalast. Vom Krieg wollten wir dabei nicht reden. Jetzt aber, angesichts neuen Grauens, taucht bei uns wenigen Überlebenden das Gespenst doch wieder auf.

Das liegt nun ziemlich genau 77 Jahre zurück - eine Episode des Untergangs, die bis heute ziemlich unbekannt ist: Meldungen von der Alpenfestung. Mai 1945. Am Fernpass in Tirol, den schon römische Legionen als Alpenübergang nutzten, müssen Jungmänner vom Reichsarbeitsdienst (RAD) mit 1200 deutschen Kämpfern in Stellung gehen. Unter ihnen der Gymnasiast Rudolf B. aus München. Tagelang sitzen er und sein Volksschulspezi Adolf L. im frisch geschaufelten Schützengraben. An einem Hang gut 50 Meter oberhalb der Passstraße, die nach Wintereinbruch am 1. Mai dick verschneit ist. Die 200 Arbeitsdienstsoldaten sollen die unten vorbei rollenden Panzer der 44. US-Infanteriedivision „blitzartig“ angreifen. "Wir froren schrecklich“, erzählt mir der 93-jährige Ex-Schulfreund im Münchner Seniorenheim. „Die feindlichen Granaten zischten über uns hinweg, wir lagen im toten Winkel.“ Der übrige Haufen wird aufgerieben, „blitzartig“. 80 blutjunge RAD-Kameraden werden als „Ausfälle“ gemeldet.

Rudi und Adi verstecken sich im Wald. Am nächsten Tag, während immer noch gekämpft wird, werfen sie ihr Kriegsspielzeug weg, steigen vom Berg runter, heben die Hände hoch.

Dies war, so liest man heute im Archiv der Tiroler Landesregierung, das größte und heftigste Gefecht des kurzen Alpenkrieges – und der militärische Untergang der sagenhaften „Alpenfestung“. Dabei schreit der Tiroler Gauleiter Hofer am selben 2. Mai in seinem letzten Aufruf noch einmal hinaus: „Umso zäher wollen wir uns an die Berge krallen.“ Am Tag vor seinem Tod im Berliner Bunker hatte Hitler seinen getreuen Hofer im Berliner Bunker zum „Reichsverteidigungskommissar der Alpenfestung“ ernannt.

Karl Stankiewitz als "Pimpf". Foto: privat

Über Mittenwald und den Zirler Berg marschiert zur gleichen Zeit eine Vorhut der 101. US-Infanteriedivision ins Innere der von den Amerikanern immer noch vermuteten „Alpine Fortress“. Beim Grenzdorf Scharnitz hat man 15- und 16-jährige Buben vom „HJ-Banner Innsbruck“ an die vorderste Kampflinie gehetzt. 28 von ihnen sterben. In der Abenddämmerung des 3. Mai erreichen die Amerikaner kampflos das Landhaus von Innsbruck, den Tiroler Regierungssitz. Er ist bereits befreit und besetzt – durch 2000 Bewaffnete der „österreichischen Widerstandsbewegung“ unter Kommando des Fernmeldetechnikers Karl Gruber, der kurz zuvor im Berliner Untergrund war (und später Außenminister der neuen Republik Österreich wird).

An dem Handstreich haben sich mehrere „preußische“ Offiziere beteiligt, auch ein Ritterkreuzträger. Innsbruck war somit die einzigen Großstadt im „Großdeutschen Reich“, die sich selbst befreien konnte. Der aus München stammende Klaus Mann berichtet als US-Soldat seinem Vater Thomas nach Kalifornien, „wie am Schluss eine ganze deutsche Division, irgendwo in den Alpen, sich einem kleinen Trupp schlecht bewaffneter Tiroler feige ergeben“ hat. Doch noch haben sich einzelne deutsche Widerstandsnester, meist in Unkenntnis der militärischen Lage, an die Berge "gekrallt". Am 3. Mai ziehen die Amerikaner eine „Sicherungsaktion“ durch das westliche Inntal.

„Wir mussten uns auf einer Anhöhe zwischen Landeck und Mills eingraben,“ erinnerte sich der Wirtssohn Georg W. aus Haidhausen, auch er ein Schulspezi, auch er zum Reichsarbeitsdienst einberufen. „Sobald sich am Berg unten Amerikaner bewegten, sollten wir runter ballern.“ Auch diese Strategie entstammte dem Gehirn Hofers, sie erinnert fatal an die Kampfart, die dessen historischer Namensvetter Andreas Hofer einst gegen die Besatzer aus Bayern und Frankreich angewandt hatte. Der Widerstand wird auch hier schnell gebrochen. Schorsch wird durch einen Bauchschuss niedergestreckt, von den Feinden in einem Feldlazarett versorgt und sodann ins Olympiastadion von Garmisch-Partenkirchen zu Tausenden von kriegsgefangenen Kameraden gepfercht. Rudi indes und die Soldatenbuben vom Fernpass werden ins noch vollere US-Gefangenenlager Heilbronn verfrachtet, wo die kräftigeren Burschen den Franzosen zur Fronarbeit übergeben werden.

„Es war ein Lotteriespiel,“ erinnert sich Rudi. „Es kam darauf an, was man im Verhör sagte.“ Rudolf B. war nach unserer gemeinsamen, durch Alarme und Bomben immer wieder unterbrochenen Schulzeit Geschäftsführer in der Münchner Stadtdirektion geworden. Er wohnt heute in einem prima Seniorenheim, das er aber – nicht nur wegen Corona - nur noch selten verlässt. Klassentreffen will der Pensionär nicht mehr organisieren. Georg, der als studierter Brauer in Hamburg gearbeitet hat, überlebt in einem Pflegeheim, er ist nicht mehr ansprechbar. „Selten, dass er mich erkennt“, trauert seine Frau. Zur Unterstützung kam noch die Tochter aus Kanada heim. Ganz früher waren wir beiden Familien zusammen im Skiurlaub. Auch mit Fritz G., dem Ältesten im hinterbliebenen Fünfer-Bund, habe ich nur noch telefonisch Kontakt. Von seinen Kriegserlebnissen hatte er bei unseren Klassentreffen nie auch nur ein Wort verloren. Ihn fassten die US-Eroberer in Landshut, wo er noch Soldat spielen musste. Sie verfrachteten ihn nach Süditalien, in ein heißes, übervolles Prisoner Camp. Erst im Oktober ließen sie ihn frei. Später hatte der stille Fritz ein kleines Schreibwarengeschäft. Heute wird er von seiner 62-jährigen Tochter betreut.

Der stets fröhliche Chaplin-Fan Karl Sch., den wir nur Charly nannten, stand damals, im chaotischen Finale eines sechsjährigen Krieges, wie eine ganze Armee unseres Jahrgangs, an einer Fliegerabwehrkanone. Am hochgerüsteten Nordrand Münchens sollten 2000 Jünglinge einer improvisierten Einheit der Waffen-SS zusammen mit halbwüchsigen, aus Münchner Gymnasien rekrutierten „Flak-Helfern“ das schwer gepanzerte, vom KZ Dachau her anrollende Elite-Regiment der US-Regenbogen-Division mit ihren Kanonen und persönlich zugeteilten Panzerfäusten aufhalten. Tatsächlich fanden bei Feldmoching, Freimann, Lohhof und Schleißheim am 30. April 1945 die letzten – auch die einzigen - blutigen Kämpfe um München statt.

„Unsere Ausbilder waren blutjunge Boys von der Offiziersschule, die uns noch vor dem Auftauchen der Amis aufforderten, bloß schnell zu verschwinden“, erzählte mir Karl im Glück. Seinen lukrativen Job als Zwischenhändler von Würsten und Gewürzen hat er noch immer nicht ganz an den Nagel gehängt. Nur besucht er jetzt fast jeden Tag die Schwabinger Stadtbibliothek, um Zeitungen und Bücher zu lesen. „Des is mei Fenster zur Welt“, sagt der Fünfte in unserem Survival-Club, der doch immer so gern möglichst weit weg gereist war.

Meldungen aus der Hölle

Mich selbst hat der besonders scharfe „Politische Leiter“ des früher katholischen Internats Albertinum, ein gewisser Herr Karrer, seinem Gauleiter Paul Giesler als „Melder“ zugeteilt. Das waren Hitlerjungen, die, mit Fahrrad und Stahlhelm ausgerüstet, noch während der Bombennächte nach größeren Bränden und noch vor dem Sirenensignal „Entwarnung“ Ausschau schauen und darüber im Bunker unter dem Salvatorkeller berichten mussten. Viele der insgesamt 1658 großen und kleinen Brände loderten und schwelten nächte- und tagelang. Nie werde ich das Inferno des Nationaltheaters aus meinem Gedächtnis löschen können. Die Löschtrupps hatten viel zu wenig erfahrene Männer. Im Winter 44/45 gefroren ihre durchnässten Uniformen und ihre Schläuche. „Meist gaben sie den Kampf mit dem Feuer vorzeitig auf“, meldete der Feuerwehrführer Jenuwein. Tagelang tauchte der beißende Rauch große Teile der Stadtruine in Dunkel. Der Strom war ausgefallen. Die Heilige Nacht dämmerte heran – ohne Frohe Botschaft.

Zu unseren Aufgaben gehörte auch die Erstversorgung ausgebombter Menschen. 49.000 Münchner wurden über Nacht obdachlos. Am 25. Februar 1945 war noch einmal die Hölle los in dieser kalten, verwüsteten Stadt. Der 46. Luftangriff forderte nur drei Todesopfer weniger als der schreckliche vom 17. Dezember. Nicht weniger als 1550 schwere amerikanische Bomber vom Typ „Flying Fortress“ kamen an jenem Sonntag in 50 Wellen. Nicht weniger als 5000 Spreng- und 250.000 Stabbrandbomben legten diesmal insbesondere die Industrieanlagen und die Wasserversorgung lahm, zerstörten Eisenbahnen und Brücken. Danach gab es nur noch "Kleinalarme". Es gab ja nicht mehr viel zu zerstören.

Am 13. März erhielt ich per Post die Mitteilung, voraussichtlich zum 14. April werde meine "Einstellung in die Kriegsmarine" erfolgen. Einrücken sollte ich in Wilhelmshaven. Ich müsste, hieß es auf dem zerzausten Papier, noch den Nachweis arischer Abstammung mitbringen und kariöse Zähne vollständig in Ordnung bringen. "Du fährst auf keinen Fall", bestimmte meine Mutter. Ich folgte, zwischen Isar und Nordsee stand eh schon irgendwo der Feind. Mutter Courage versteckte ihren schulpflichtigen, aber plötzlich kriegsverwendungsfähigen Knaben in der Behausung des befreundeten, antinazistischen Apothekers Jacobi am Ufer der Isar (wo er seither wohnt). Allerdings war höchste Vorsicht geboten. "Feldjäger" schnüffelten seit blutiger Niederschlagung der „Freiheitsaktion Bayern“ überall herum. Suchkommandos von Wehrmacht und SS - man nannte sie „Heldenklau“ - griffen auch Jugendliche auf und schickte sie sofort an die immer näher rückende Front. Solche Typen galten ohne nähere Umstände als asoziale Streuner. Und das waren wir ja tatsächlich, nachdem sämtliche Schulen seit dem 14. Februar geschlossen waren.

Der Jahrgang 1928

Es gibt verhältnismäßig viele Bücher über den Jahrgang 1928 - Berichte von Angehörigen jener letzten Generation, die als „kriegsverwendungsfähig“ klassifiziert war; „kv“ oder „nkv“ stand im obligaten Wehrpass. Später entdeckten Soziologen und andere eine „missbrauchte“ oder gar „verlorene“ Jugend. Dagegen wehrten sich betroffene Autoren. Die meisten sind noch nicht lange tot. Zu ihnen gehörten namhafte deutsche Schriftsteller, Publizisten oder Schauspieler, die in ihren Rückblicken sachlich, klar, manchmal kämpferisch für Frieden, Freiheit, Aufklärung, Menschenrechte eintraten. Die eine Zeitzäsur sowie den Neustart einer deutsche Demokratie voll bewusst erlebten, auch neue Wege wiesen. Um nur einige zu erwähnen: Karlheinz Böhm, Klaus Bölling, Hardy Krüger, Manfred Krug, Gerd Ruge, Oswalt Kolle. (Aus der übrigen Welt seien hier nur noch Che Guevara, Andy Warhol und Hans Küng als Bahnbrecher vom gleichen Geburtsjahr am Rande genannt.)

An vorderster Front der Friedenskämpfer stand indes der 2017 in Jerusalem verstorbene Reuven Moskovitz. Zufällig wurde er am selben Tag geboren wie der Schreiber dieser Zeilen, allerdings nicht im Deutschen Reich, sondern in einem Stetl nahe der rumänisch-ukrainischen Grenze. Während unsereiner noch im Trümmer-München die Reifeprüfung büffelte, wanderte der 18-jährige jüdische Bub nach Palästina aus, wo er bald ein israelisch-arabisches Friedensdorf mitgründete, dazu ein Friedensmuseum, Friedenswege, ein Friedensschiff und eine sehr aktive Friedensbewegung. Regelmäßig besuchte er seine Freunde in München, vor allem den legendären, leider verblichenen Club Voltaire (der auch für meinen älteren AZ-Freund Klaus Budzinski geistige Heimat war).

„Wir vom Jahrgang 1928“ – unter diesem Buchtitel von 2010 blendet Günther Willmann, auch er als Veteran der „Flakhelfer-Armee“, zurück auf prägende Ereignisse. Zum Beispiel: Wie das Gros der 6. deutschen Armee in dem „von russischen Truppen gebildeten Kessel“ von Stalingrad in fast sechs Wintermonaten verreckte und schließlich, Hitlers Durchhalte-Befehl zum Trotz, aus dem Untergrund zerstörter Fabrikhallen hervorkroch. Unserem Jahrgangs-Chronisten, Reporter, Schauspieler und Stadionsprecher erschien diese Tragödie der Militär- und Menschheitsgeschichte als „Sinnbild für das Grauen des Zweiten Weltkriegs, wie es Verdun für den Ersten geworden war“.

Heute können wir womöglich den Namen einer dritten symbolischen Stadt anfügen: Mariupol.

Veröffentlicht am: 11.06.2022

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