"Der Entrepreneur" - Premiere im Marstall
Von Pilzen und Individuen
Nora Schlocker inszeniert im Marstall Kevin Rittbergers "Entrepreneur". Die Zukunftsvision einer nachhaltigen, gerechten Welt will einen gesellschaftlichen Wandel greifbar machen. Doch getarnt als Idee drängt sich der gute alte Marxismus zu sehr auf, als dass das Traumbild nicht heftige Skepsis erregen würde. Nur ein besonderes Bühnenbild, gefertigt aus einem neuartigen Pilzmyzel-Baustoff, macht Hoffnung auf eine neue Ästhetik.
Ein meterlanger Baumstamm, der die Welt im Kleinen, genauer gesagt, die umgemodelte Firma des Entrepreneurs darstellt, ist aus dem Myzel-Stoff hergestellt. Man sieht es ihm nicht an, aber im Foyer wird die Herstellung des natürlich nachwachsenden Materials gezeigt: Der Baumpilz Trametes Hirsuta wird, kurz gesagt, mit Holzspänen, Baumwollflocken und Kleie zu einem relativ stabilen, zu 100 Prozent kompostierbaren Material herangezüchtet. Das ist genial, die Uni Dresden und die Radeberger Firma Biotopa haben hier mit den Bühnenbildnern des Residenztheaters zusammengearbeitet.
Chauffeur (Delschad Numan Khorschid) und Angestellte (Lisa Stiegler) wollen den Entrepreneur (Robert Dölle) zum konservativen Modell umstimmen. Foto: Sandra Then
Wie Pilzmyzel enden allerdings auch die Figuren des Stücks. Keiner hat mehr eine Identität, es gibt keine Eltern und Kinder mehr, jeder macht alles, jedem gehört alles, jeder darf alles und alle gehören wie eine riesengroße Menschenfamilie zusammen – die Mega-Waltons 4.0. Das kommt so: Der Entrepreneur (anfangs gespielt von Robert Dölle) hat genug von seinem Leben im Drogenrausch und übergibt seine Firma seinen Mitarbeitern, dem "Syndikat" wie er es nennt. Einfach so. Die "Syndis" teilen sich fortan die Arbeit, jeder ist Manager, Chauffeur und Vorstandsassistentin zugleich, außerdem wird nur noch in nachhaltige Produkte und Dienstleistungen investiert. Der Chef selbst hat seine Villa verschenkt, wohnt jetzt im Keller der Firma und rettet ansonsten nur noch mit Kindern den Wald. Da haben einige Menschen natürlich etwas dagegen. Die Tochter will ihr privilegiertes Leben weiterführen und erben, der Chauffeur will doch gar nichts außer Auto fahren und dessen Kollegin tobt: "Wir haben hier ein gut funktionierendes System. Ich arbeite nicht für niemanden. Stell mich wieder ein!" Der ständige Gedanke ans große Ganze, die Notwendigkeit zum Diskutieren, Planen und Konferieren, alles, was in einer völlig egalitären Gesellschaft nötig ist, stößt manchen ab. Nicht zu vergessen, die geschiedene Ehefrau, die ihren Prozess gegen den Ex fortführen und gewinnen will. Nur der Exfreund der Tochter hält seinen Schwiegervater in spe für einen großen Visionär.
Jedenfalls ist der Clou nicht rückgängig zu machen, der Klimawandel sei ja auch nicht rückgängig zu machen, doziert der Entrepreneur. Was natürlich nicht korrekt ist, die Schenkung der Firma wäre im Gegensatz zum Klima durchaus rückgängig zu machen. Dass an der Vision etwas nicht stimmt, wird im Verlauf des Umbaus klar, im Zuge dessen die Mitarbeiter immer weiter die Säulen des Unternehmens abbauen, an anderer Stelle platzieren und Gespräche führen. Eine neue Welt formt sich und es blühen die schönsten Ideen. Wie wäre es zum Beispiel, wenn man das Fürsorgeproblem der Arbeitslosen und Berufsunfähigen mit dem Problem des Pflegenotstands zusammenlegt? Jeder bekommt schon bei Geburt einen Leihvater-Pass, so dass jeder für jeden verantwortlich ist. Die Mutterschaft verliert an Bedeutung, denn "die Geburt macht die Mutter, nicht anders herum". Und natürlich fahren alle nur noch umweltfreundlich im Bus.
Der Gemeinschaftsgedanke, der hier als avantgardistisch verkauft wird, ist im Grunde nichts anderes ist als der marxistische Gedanke, den Arbeiter endlich nicht mehr von der Produktion zu entfremden, sondern ihn an allen Gewinnen teilhaben zu lassen, nur eben auf moderne Verhältnisse und Techniken übertragen. Das Modell wird sogar so weit praktiziert, dass die Schauspieler ihre Rollen teilen. Als Kostüme tragen sie bemalte einteilige Anzüge oder Mäntel, die sich nach Bedarf tauschen lassen. So sehen die Zuschauer Robert Dölle, anfangs der Entrepreneur, im Laufe des Stücks zum Beispiel auch als seine eigene Tochter und seine Ex-Frau. Es gibt keine Charaktere mehr. Die Rolle macht den Charakter, und auch seine Ziele, Erfahrungen und seinen Willen. Dem Ensemble verlangt das einiges ab, und man beglückwünscht sich still, in München gleich mehrere große Darsteller zu haben, deren Mimik ganz Erstaunliches darbietet. Das sind die angenehmen Momente. Es gibt Cross-Dressing-Dialoge voller Leben, vor allem mit Dölle, Lisa Stiegler (Angestellte), Delschad Numan Khorschid (Chauffeur).
Doch das Syndikat wächst weiter, und auch die Zuschauer bleiben nicht verschont. Zunächst werden die ersten Reihen gebeten, sich auf die demontierten Säulen – jetzt Totholz-Baumstämme – zu setzen, um einer Art Nachhaltigkeits-Gottesdienst der Gruppe "Bewusstsein durch Bewegung" beizuwohnen. "Halten Sie sich fest", beschwört die Anführerin, pardon, Prima inter Pares, "hier! Oder hier. Oder hier. Es gibt Hände. Beine. Pfoten. Äste. Erde. Asche. Flossen. Sporen. Wir tanzen. Tanzen. Asche. Tanzen. Erde. Äste. Hier. Und hier. Deine Hand. Meine Hand". Rittbergers Text ist sprachlich tiptop, die Repliken schießen direkt in den Präfrontalen Cortex. Ein Stück über Sprach-Gendern von ihm wäre interessant. "Oh Gott, ist das hier religiös?", motzt indes die Tochter bei der Wald-Messe. Richtig geraten, Umweltschutz ist schon längst zur Religion entartet, und zwar zu einer reichlich totalitären. Vielleicht macht deshalb auch die Hälfte der Baumstamm-Zuschauer ein hilfloses Gesicht, was kann die arme Erde für diesen Zirkus. Später wird sogar das gesamte Publikum auf die andere Seite des Saals verfrachtet, rüber in die neue Welt, dahin wo früher die Firma stand, ob es will oder nicht.
Gesellschaft in Trümmern oder Material für eine neue Welt? Das Stück entscheidet nicht. Foto: Sandra Then
Im Showdown werden die Zuschauer schließlich Zeugen einer Art größerer Ratssitzung per Videokonferenz. Jetzt, da die Firma umstrukturiert ist, kommen die Sorgerätin, der Waldrat, die Arbeiterinnenrätin und so weiter zu Wort, und alle haben nur gute Nachrichten dabei. Alles super gelaufen! Man könnte sich in einem Happy End wähnen, wäre da nicht der KI-Rat, eine künstliche Intelligenz, die unangenehme Fragen stellt. Unter anderem: "Warum war ich bei der letzten Sitzung nicht dabei?" Wie lange sich die KI noch ausschalten lässt, kann man sich ausrechnen. Und auch, dass es Szenarien gibt, in denen sich eine myzel-strukturierte Gesellschft als Nachteil erweist.
Wenn also die Gesellschaft funktioniert wie ein Pilzgeflecht, in dem alle mit allen zusammenhängen, niemand besser ist als die Nachbarzelle und jeder nur in Abhängigkeit vom Nächsten gesund werden kann – ist das dann wünschenswert? Rittbergers Stück trifft keine klare Entscheidung. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, ob er in Utopien schwelgen will (Mensch, so könnte es doch klappen, wenn nur alle mitmachen würden!) oder sich unter erstklassigen Umständen ekeln will (Warum muss so eine gute Kompanie naturreligiösen Terror beweihräuchern?). Es möge sich das jeder selbst gefallen lassen, wie er will. Aber nicht vergessen: Pilze bilden von Zeit zu Zeit Fruchtkörper, die aus dem Boden schießen und ganz anders sind als der Rest.